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Die wissenschaftliche Erklärung für Vetters Debakel

Warum bei Olympia für den besten Speerwerfer der Welt nicht viel mehr als Platz neun möglich war? Ein Leipziger Forscher nennt jetzt die Gründe.

Von Tino Meyer
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Der bange Blick nach dem Abwurf sagt alles. Johannes Vetter weiß, dass er in diesem Wettkampf chancenlos ist – ausgerechnet bei Olympia.
Der bange Blick nach dem Abwurf sagt alles. Johannes Vetter weiß, dass er in diesem Wettkampf chancenlos ist – ausgerechnet bei Olympia. © dpa/Michael Kappeler

Dresden. Mehr Dominanz geht nicht. Die sieben besten Speerwurf-Ergebnisse in dieser Saison kommen allesamt von ihm: Johannes Vetter. Mit 96,26 Metern führt der gebürtige Dresdner die Weltrangliste seiner Disziplin an, gleich reihenweise hat er die 90-Meter-Marke in der ersten Saisonhälfte übertroffen. Das weltweit achtbeste Ergebnis, erzielt vom Polen Marcin Krukowski, folgt mit einigem Abstand bei 89,55 Metern, und für den Olympiasieg vor anderthalb Wochen in Tokio haben einigermaßen unerwartet schon 87,58 Meter gereicht. Die noch größere Überraschung dabei war, dass dies Neeraj Chopra aus Indien gelang.

Vetter dagegen wurde beim größten und wichtigsten Wettkampf des Jahres mit 82,52 Metern – das bedeutet Platz 85 in der Bestenliste – lediglich Neunter. Dies ist und bleibt die eigentliche Sensation und zudem die Frage: Wie konnte das passieren?

Die Antwort hatte Vetter danach sofort parat. Er sagte das, was für alle offensichtlich war: Schuld am Debakel war der Bodenbelag gewesen, was nun de facto auch wissenschaftlich bestätigt ist.

Der Belag limitiert die Technik

„Bei dem Belag waren große Weiten für Athleten wie Johannes, deren Technik auf dem harten und flachen Aufsetzen des Stemmbeins basiert, unmöglich“, sagt Stefan Erlewein vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig, kurz IAT und besser bekannt als die Medaillenschmiede des deutschen Sports.

Seit Ende 2017 kümmert sich Erlewein um die sportwissenschaftliche Betreuung der Speerwerfer mit regelmäßiger Leistungsdiagnostik, Technik-Schulung, Messplatztraining und Wettkampf-Analyse. Für den Bodenbelag ist das IAT indes nicht verantwortlich, wie Erlewein klarstellt.

Am Fernseher hat er dennoch nicht nur mitgelitten, sondern sich auch über die Bedingungen geärgert – inzwischen aber wieder den wissenschaftlich-nüchternen Blick eingenommen. „Das Ergebnis von Tokio ist sehr schade, zuallererst für Johannes. Natürlich ist es für die Öffentlichkeit unverständlich. Deshalb ist es mir wichtig, jetzt auch aufzuklären, warum nicht mehr möglich war“, betont Erlewein und verweist einmal mehr auf den im Olympiastadion verlegten Belag von der Firma Mondo.

Dabei handelt es sich um eine Neuentwicklung mit einem bislang ungekannten und sehr ausgeprägten Federeffekt, ausgelegt für schnelle Lauf-Zeiten insbesondere im Sprintbereich. Die gab es bei Olympia tatsächlich reihenweise. Für das Speerwerfen, erklärt Erlewein, sei dieser sehr weiche, federnde Belag aber kontraproduktiv.

„Speerwurf ist die einzige Disziplin, bei der auf der Bahn die Anlaufgeschwindigkeit abrupt abgebremst und in Abwurfgeschwindigkeit umgewandelt werden muss. Dafür ist ein möglichst harter, in sich stabiler Bodenbelag notwendig, damit das Stemmbein bei einem flachen Aufsetzwinkel an Ort und Stelle stehen bleibt und somit ein festes Widerlager bilden kann“, verdeutlicht der Experte vom IAT und betont, dass nicht nur Vetter weit hinter den Erwartungen zurückblieb.

Der gebürtige Dresdner Johannes Vetter merkt gleich, dass das mit ihm in Tokio nichts wird.
Der gebürtige Dresdner Johannes Vetter merkt gleich, dass das mit ihm in Tokio nichts wird. © Archiv: dpa/Michael Kappeler

Der Pole Krukowski (74,65) und der Weltjahresdritte Keshorn Walcott aus Trinidad und Tobago (79,33) schieden im Vorkampf aus. Sie alle werfen mit der Stemmbein-Technik – und sind bei Olympia im wahrsten Sinn des Wortes ausgerutscht.

Die Medaillengewinner von Tokio dagegen erzielen ihre Weiten aus einer Verdrehung des Oberkörpers. Diese Technik, bei der das Stemmbein mehr von oben und nicht so vehement aufgesetzt wird, was sich an einem Nachgeben im Kniegelenk zeigt, macht Weiten jenseits der 90 Meter aufgrund biomechanischer Grundsätze allerdings fast unmöglich.

So oder so – jeder Athlet in der Weltspitze hat sich auf eine zu ihm passende Technik spezialisiert und die Abläufe beim Anlauf über Jahre automatisiert. „Eine Anpassung oder gar Umstellung braucht sehr viel Zeit, das ist in drei Tagen zwischen Qualifikation und Finale unmöglich“, erklärt Erlewein. Schließlich gehe es im Training ja darum, eine hohe technische Stabilität zu entwickeln, die dann in Drucksituationen abgerufen wird.

Vetter war also chancenlos, und das wusste er auch. „Die Athleten merken das beim Einwerfen sofort. Deshalb hatte Johannes schon in der Qualifikation große Schwierigkeiten“, sagt Erlewein und skizziert noch einmal das Finale.

Ausgerutscht und ausgeschieden

Im ersten Durchgang ging Vetter noch nicht volles Risiko. Er setzte das Stemmbein mehr von oben auf, was ein Rutschen minimiert, aber gleichzeitig den Oberkörper weiter nach vorn bringt und damit große Weiten verhindert. Der Speer landete bei 82,52 Metern. Im zweiten und dritten Durchgang setzte Vetter das Stemmbein dann wieder flacher mit dem Oberkörper in optimaler Position für große Weiten auf, was der Belag allerdings nicht halten konnte. Vetter rutschte weg und schied aus.

„Nun müssen wir nach vorne schauen“, sagt Erlewein – was nicht bedeutet, dass er das enttäuschende Abschneiden klein- oder gar wegreden will. Eine detaillierte Analyse wird es auch diesmal geben – verbunden mit einem auf Olympia 2024 ausgelegten Plan. Erlewein meint den Blick nach vorn nicht zuletzt in Bezug auf den Bodenbelag. „Wir müssen sehen, wie diese Entwicklung weitergeht. Es wäre denkbar schade, wenn wir aufgrund des Belags im Speerwurf einen Weiten-Rückschritt hinnehmen müssen, statt den Weltrekord zu jagen“, sagt er.

Bei 98,48 Metern steht die Marke, aufgestellt 1996 vom Tschechen Jan Zelezny in Jena. Dass Vetter die Weite drin hat, davon ist Erlewein überzeugt – wenn Technik und Tagesform stimmen und auch der Belag. Das muss man nach den Erfahrungen bei Olympia nun mehr denn je hinzufügen.