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Einsamkeit im ersten Semester

Kaum Kontakte, finanzielle Sorgen, fehlender Austausch. Seit Frühjahr studieren Zehntausende allein in ihren Zimmern - ein Blick in den digitalen Alltag.

Von Luisa Zenker
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Wie läuft das Online-Studium - Fünf junge Menschen erzählen aus ihrem Alltag.
Wie läuft das Online-Studium - Fünf junge Menschen erzählen aus ihrem Alltag. © Arvid Müller

Steht man auf dem Campus der Technischen Universität Dresden, hört man Vögel singen. Man hört ein paar Autos, dann Stille. Ab und zu hallen Schritte an den Wänden der hohen Gebäude wider. Einsame Gestalten, die über den leeren Platz eilen. Angeregte Gespräche, lachende Menschengruppen, klirrende Kaffeetassen oder anstoßende Bierflaschen nach einer Prüfung - sie fehlen.

Seit dem Frühjahr sitzen die Studierenden Zuhause, gebeugt über dem eigenen Schreibtisch. Das digitale Studium in der Corona-Krise verlangt jungen Menschen viel ab: die Eltern in Kurzarbeit, keine Nebenjobs in der Kneipe, das Nachtleben ausgestorben. Mittag gegessen wird jetzt nicht mehr gemeinsam in der Mensa, sondern allein vorm Bildschirm.

Während der Corona-Krise wachsen die finanziellen Nöte der Studierenden. Lange mussten sie auf eine Bafög-Verlängerung durch die sächsische Regierung warten. Auf Praxisübungen im Labor oder Exkursionen müsse sie schon länger verzichten. Depressive Verstimmungen, Isolation, Trennungsschmerz - all das verstärkt sich unter den Studierenden, geht einher mit fehlenden Umarmungen der Kommilitonen.

Doch wie geht es ihnen? Den Studierenden, die doch sonst für ihre ausufernden Partys bekannt sind? Ist alles schlecht im Online-Studium? Oder kann es auch mal ganz schön sein, von der Couch aus einer Mathevorlesung zu lauschen? Fünf Studierende aus Sachsen erzählen.

"Manchmal denk ich: Ich bin zu dumm"

Julia Schlösser mit einer Kaffeetasse auf dem Balkon. Eigentlich müsste sie jeden Tag fürs Studium nach Freiberg pendeln.
Julia Schlösser mit einer Kaffeetasse auf dem Balkon. Eigentlich müsste sie jeden Tag fürs Studium nach Freiberg pendeln. © Arvid Müller

Kaffee kochen, duschen, eine saubere Hose raussuchen und zur Uni radeln – so sah der Morgen von Julia Schlösser früher aus. Doch seit Corona die Studentin aus dem Vorlesungssaal vertrieben hat, tut es auch die Jogginghose. Der Kaffee ist geblieben. Chemie und Physik auch - aber jetzt nur noch per Videokonferenz. Die beiden Fächer braucht Julia für ihr Masterstudium in Geoökologie an der TU Freiberg.

Am Vormittag folgt eine Online-Vorlesung nach der anderen. Zwischendurch mal durchatmen und bei den Mitbewohnern in der WG vorbeischauen: Na Lust auf Mittag? Dann geht es wieder vor den Laptop. Kennengelernt hat Julia ihre Kommilitonen bisher nur auf Abstand. Am Nachmittag geht Julia Joggen oder mit einer Freundin spazieren.

Ist sie genervt vom digitalen Studium? „Ja ich will fürs Lernen nicht ständig in den Laptop schauen. Ich will mich über die Formeln in Chemie unterhalten. Manchmal denk ich in der Vorlesung: Ich bin zu dumm, dabei fehlt mir einfach nur der Austausch.“ Einfach zu wissen, dass die Kommilitonen auch nicht alles verstehen.

Im analogen Hörsaal kann man die Fragezeichen in den Gesichtern der anderen sehen. Zuhause bleiben Julia nur die unbekannten Namen auf dem Bildschirm. Ob andere sich ähnlich fühlen? Doch Julia kann dem Lockdown auch was Positives abgewinnen: Vorerst muss sie nicht nach Freiberg pendeln, sondern kann von Dresden aus studieren.

Wie die nächsten Wochen aussehen werden, weiß sie nicht, denn die Prüfungen wurden verschoben. Julia setzt ihre Hoffnungen auf den Frühling: Vielleicht kann sie dann wieder als Aushilfe in der Kletterhalle arbeiten.“

Online-Studium hat auch Vorteile

Informatikstudent Niklas Kreer ist erst im Sommer nach Dresden gezogen.
Informatikstudent Niklas Kreer ist erst im Sommer nach Dresden gezogen. © Arvid Müller

Sechszehn Stunden verbringt Niklas Kreer vorm Computer. Jeden Tag. Der 20-Jährige ist kein Zocker. Er ist Student und das bedeutet während der Pandemie für viele: Ein angeschalteter Bildschirm von früh bis abends. Niklas ist Ersti an der TU Dresden und lernt durch sein Informatikstudium den Dschungel der Programmiersprachen kennen. Wen er nicht kennenlernt, sind seine Kommilitonen.

Einmal hat er sie erst gesehen, danach nur noch im digitalen Raum. Einsam fühlt sich Niklas, der durch sein selbstbewusstes Auftreten recht cool wirkt, nur manchmal. „Aber“, wendet er ein und streift sich mit der Hand durch seine langen blonden Haare, „dann treffe ich mich mit Freunden online zum Quatschen oder Spielen.“

Niklas trägt eine große schwarze Sonnenbrille. Der 20-Jährige hat eine Sehbehinderung. Seine Augen nehmen nur fünf Prozent von dem wahr, was ein normales Auge sehen würde. Wenn Niklas also in einer richtigen Vorlesung sitzen würde, müsste er eine Art Fernglas aufsetzen, um etwas zu erkennen. Der Vorteil im Online-Studium: Er kann die Unterlagen stark vergrößern. Aber geht das überhaupt Programmieren, wenn man den Code nicht lesen kann? Auf die Frage, reagiert er gelassen und hält seine Tastatur hoch. Sie ist ganz normal - ohne Brailleschrift.

Niklas kann sie auswendig aufsagen. Schon vor seinem Studium engagierte er sich bei der größten europäischen Hackervereinigung „ChaosComputerClub“. Bald kriegt er auch einen Job an der Uni. Dann darf er am Informatik-Institut die Webseite barrierefrei umschreiben. Finanziell ist er abgesichert, sein Nebenjob im Callcenter ist gefragter wie nie.

Willkommen in Corona-Deutschland

Andrea Atanasova am Schreibtisch in ihrem Zimmer. Im Oktober ist sie von Bulgarien in ein Dresdner Studentenwohnheim gezogen.
Andrea Atanasova am Schreibtisch in ihrem Zimmer. Im Oktober ist sie von Bulgarien in ein Dresdner Studentenwohnheim gezogen. © Arvid Müller

Andrea Atanasova lächelt in die Kamera. Plötzlich ist ihr Bild erstarrt. Einige Minuten später hört man sie fluchen: „Schon wieder.“ Dann ist sie erneut zu sehen. Dass sie aus der Videokonferenz fliegt, gehört für sie zum Alltag. Genauso wie ihr Wohnheim-Schreibtisch. Denn dort sitzt die Studentin aus Bulgarien von früh bis abends, hört sich Vorlesungen an, macht digitale Gruppenarbeiten, und lernt botanische Namen auswendig.

Die 19-Jährige studiert Landschaftsarchitektur - ein kreativer Studiengang „Man lernt Gärten, Parks, öffentliche Plätze zu gestalten“, erklärt Andrea. Eigentlich gehe man bei dem Studium ganz viel raus, mache Exkursionen durch die Stadt, begutachte heimische Pflanzen im Botanischen Garten. Jetzt läuft das alles digital ab.

Ihre Kommilitonen hat Andrea bisher kaum zu Gesicht bekommen - einsam fühlt sie sich aber nicht. „Ich wusste, wenn ich hierherkomme, wird es erstmal schwer, neue Menschen zu treffen“, sagt sie. Darauf hat sie sich eingestellt, als sie im Herbst aus Bulgarien nach Deutschland zog. „Besonders über meine Mitbewohnerin bin froh.“ Sie leben gemeinsam in einer Zweier-WG in Uni-Nähe.

Sie kochen zusammen und machen es sich im Lockdown mit Filmabenden gemütlich. Gemütlich macht es sich Andrea auch in ihrem Zimmer: Auf ihrem Schreibtischstuhl hat sie ein großes Kissen gelegt. Darauf sitzt sie meist in Jogginghose und verfolgt die Vorlesungen. Manchmal scheitere es aber an der Konzentration. „Ich lass mich schnell Ablenken. Zum Beispiel von meinem Bett“, sagt sie augenzwinkernd. „Das sieht so gemütlich aus.“Manchmal gehe ihr alles zu schnell. „Von einer Minute auf die andere befindet man sich in der Vorlesung und nach 90 Minuten ist sie wieder vorbei.“

Die Umgebung bleibt die gleiche: Immer noch allein im eigenen Zimmer. Dann prasseln plötzlich all die Aufgaben auf sie ein, der Druck wächst. Nach einer Vorlesung im Hörsaal wird gemeinsam getratscht. Jetzt sitzt jeder allein. Einen Vorteil habe das Online-Studium: Andrea kann sich die Vorlesungen mehrmals anhören - sie spricht zwar sehr gutes Deutsch, aber bei den Fachbegriffen hapere es. Freut sie sich auf die Lockerungen?“ Sie hält einen Arm hoch: „Ja. Endlich Tanzen. Reisen. Arbeiten.“

Zwischen Laptop und Laufrad

Bela Burkert zwischen Kind und Studium. Manchmal versucht er beim Spielen mit Tochter Frieda weiterzuarbeiten.
Bela Burkert zwischen Kind und Studium. Manchmal versucht er beim Spielen mit Tochter Frieda weiterzuarbeiten. © Arvid Müller

Eigentlich würde Bela gerade ein Praktikum machen. Jetzt sitzt er zuhause mit seiner dreijährigen Tochter und spielt mit ihr Fußball, hört Hörbücher, hilft beim Laufrad fahren. Uni muss er trotzdem machen. Bela wohnt mit seiner Freundin Lea und Tochter Frieda in einer Dreizimmerwohnung in der Dresdner Neustadt. Er studiert Maschinenbau im zehnten Semester.

Für das Gespräch steht er mit einer Kaffeetasse draußen im Hof, dreht sich eine Zigarette. Frieda schläft noch im Kinderzimmer - gemeinsam mit zwei anderen Kindern. Denn Friedas Eltern teilen sich die Kinderbetreuung mit einem befreundeten Paar. Alle zwei Tage wird gewechselt: Eine Art Kindergarten-Notbetrieb - nur eben von Zuhause.

Sein Praktikum absolviert der Student jetzt am Laptop - er schreibt eine große Hausarbeit. Drei Monate hat er dafür Zeit. Die Prüfer erwarten, dass er 40 Stunden in der Woche daran sitzt. Bela schafft aber nur 20 bis 30 Stunden, denn Frieda will beschäftigt werden und seine Freundin Lea studiert Lehramt. Vollzeit. Bela setzt die Frist unter Druck, sagt er. "Natürlich liegt es nicht nur am Lockdown, sondern auch an mir."

Verlängern will er aber nicht, denn schon seit dem Frühjahr ist er mit seinem Studium in Verzug. Schon da saß er an einer Projektarbeit, bis der Kindergarten die Pforten für fast alle schloss. "Als Student ist man eben nicht systemrelevant". Bela sagt, dass er nicht missverstanden werden will. "Ich genieß es auch sehr - die Zeit in der Familie".

Trotzdem sei es manchmal frustrierend, zu wissen, dass man eigentlich mal weitermachen müsse. Die Tochter will er dann aber auch nicht mit all ihren Warum-Fragen allein lassen. Denn für die Kleinen ist die Welt voller Wunder. "Zumindest wird uns nie langweilig", sagt Bela mit einem Lächeln im Gesicht.

Es war zu einsam- Die Rückkehr zur Familie

Rieke Lüers auf dem Reiterhof in Hellerau. Sie wollte unbedingt mit Pony Paula fotografiert werden. Denn auch die Kleinsten müssen mal in die Zeitung kommen.
Rieke Lüers auf dem Reiterhof in Hellerau. Sie wollte unbedingt mit Pony Paula fotografiert werden. Denn auch die Kleinsten müssen mal in die Zeitung kommen. © Arvid Müller

Rieke heißt einfach nur Rieke. Nicht Frederike? Bei der Frage lacht sie. Das macht Rieke Lüers noch oft im Gespräch. Vor anderthalb Jahren hat die lebensfrohe Dresdnerin ein Studium angefangen. Kindheitspädagogik in Görlitz - „Eine schöne Stadt“, sagt Rieke. Doch von dem Ort hat sie bisher wenig mitbekommen. Der Grund: Corona.

In den ersten Monaten ihres Studiums hat sie viele neue Leute kennengelernt. Im Frühjahr saß Rieke dann plötzlich allein im Görlitzer Wohnheim und hat auf ihren Bildschirm gestarrt. Der war meist schwarz, weil die Internetverbindung hakte. Die 22-Jährige ist immer öfter zu ihrer Familie gefahren. Dort war wenigstens etwas los: Der Bruder im Home-Schooling, das gemeinsame Abendessen mit den Eltern.

Schon bald hat sie entscheiden: Sie bleibt erstmal in Dresden - Online-Studieren kann sie von jedem Schreibtisch aus. Und wie läufts? „Ich finds anstrengend“, sagt Rieke und klingt dabei frustriert. In den Seminaren hat sie immer die Kamera an, um sich nicht abzulenken. „Und damit ich mir zumindest oben rum, etwas Schickes anzieh“. Was Rieke besonders frustriert: „Ich kann nicht planen.“

Ihren Wohnheimplatz in Görlitz bezahlt sie noch immer. Wie sie eine gute Betreuerin für Kinder wird, kann Rieke Zuhause nur teilweise lernen. Der richtige Umgang mit Menschen, ihn lehrt kein Buch. Sondern nur die Praxis. Ihre halbe Studienzeit soll Rieke mit Praktika verbringen. Noch kann das werden. Dann sollte der Lockdown aber nicht mehr allzu lange dauern. Bis dahin verbringt sie viel Zeit mit den Pferden. Bewegung - das brauchen Pferde - auch Ponys: „Denen ist Corona egal.“

Initiative Solidarsemester

Um auf die Herausforderungen im Studium aufmerksam zu machen, hat sich die Initiative "Solidarsemester" gegründet. Mit fünf Forderungspunkten richtet sich das Bündnis an die Regierung. Dabei geht es nicht nur um die Studierenden: "Die Corona-Krise ist auch eine Krise der Universitäten und Hochschulen. Sie betrifft Studierende, Lehrende und Wissenschaftler:innen", heißt es.