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Weniger häusliche Gewalt im Corona-Jahr?

Seit Beginn der Pandemie wird vor mehr häuslicher Gewalt gewarnt. Doch die Anzeigen bei der Polizei sind gesunken. Experten warnen vor hoher Dunkelziffer.

Von Luisa Zenker
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Ob Frau oder Mann, ob Kind oder Erwachsener - die Zahl häuslicher Gewaltdelikte verschwindet im Dunkeln
Ob Frau oder Mann, ob Kind oder Erwachsener - die Zahl häuslicher Gewaltdelikte verschwindet im Dunkeln © Suvee_Subyen

Häusliche Gewalt hat viele Formen. Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Mord. Gerade in Zeiten des Lockdowns warnten viele Verbände vor steigenden Opferzahlen. Die Hilferufe der Betroffenen blieben im Corona-Jahr jedoch aus. Experten erklären, warum.

Rolaf Boye vom Kinderschutzbund Sachsen stellte während des ersten Lockdowns fest: Beim Hilfstelefon rufen weniger Betroffene an. „Aber häusliche Gewalt gab es weiterhin“, sagt er. Nur gesehen habe sie niemand, weil Jugendhäuser und Schulen geschlossen hatten. Blaue Flecken konnten von der Lehrerin nicht gesehen werden, vertraute Erzieher waren nicht vor Ort.

Blickt man auf die Fallzahlen in Sachsen, zeichnet sich ein klares Bild ab: Die Anzeigen gegen häusliche Gewalt gingen in Sachsen zurück. So gab es im Frühjahr laut Polizei fast 700 Delikte weniger als 2019. "Grund hierfür ist die Tatsache, dass häusliche Gewalt häufig nicht durch die Opfer selbst, sondern durch Dritte wie zum Beispiel Freunde oder Kolleginnen angezeigt wird", beantwortete Justizministerin Katja Meier eine kleine Anfrage der AfD im Sommer. Und auch nach dem ersten Lockdown stiegen die Anzeigen gegen häusliche Gewaltdelikte nicht auf das Niveau vom Vorjahr.

Jede vierte Frau Opfer von häuslicher Gewalt

Doch Maria Dabrunz vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF Radebeul) gibt zu Bedenken, dass die Polizeiangaben nur einen kleinen Ausschnitt berücksichtigen. Viele Betroffene würden sich nicht trauen, ihren Partner oder ihre Eltern bei der Polizei anzuzeigen. Oder aber die Form der Gewalt sei nicht strafrechtlich verfolgbar. Denn neben Prügel oder sexuellen Delikten zählen noch weitere Arten dazu. Häusliche Kontrolle, Beleidigungen, Rufmord, Stalking - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Und ein Geldentzug sei beispielsweise schwierig nachzuweisen. Maria Dabrunz vermutet, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt, als die eingegangen Gewaltdelikte bei der Polizei.

Trotz ausbleibender Anrufe, Maria Dabrunz hat eine neue Kategorie erkannt: Sie nennt sie Corona-Opfer. So habe es bei manchen Familien im ersten Lockdown erst angefangen zu eskalieren.

Die Gründe sind leicht zu finden: Home-Office, wegfallende Freizeitaktivitäten, Kinder und Eltern auf engem Raum. Familien geraten durch die Pandemie in prekäre Lebenssituationen: Finanzielle Engpässe, Schulschließung und damit verbundene Mehrbelastung durch Homeschooling. Plötzlich schlagen Eltern oder Partner zu, obwohl es vorher keine Gewaltausbrüche gab. Auch Annett Engelmann von Triade aus Leipzig beobachtet ein wachsendes Gewaltpotenzial im Lockdown.

Mehr Anrufe nach dem ersten Lockdown

Die GbR Triade ist in der Anti-Gewaltarbeit aktiv und berät Täter sowie Täterinnen. Gemeinsam werden Lösungen erarbeitet, um Eskalationen zu vermeiden. Besonders im Juni hätten dort mehr als doppelt so viele Personen ein Beratungsgespräch gewünscht als im Vorjahr. Und auch Sindy Lohberg von der Landesarbeitsgemeinschaft gewaltfreies Zuhause Sachsen berichtet: "Nicht während, sondern nach dem Lockdown stieg der Bedarf an Beratungen zu häuslicher Gewalt deutlich an, leicht versetzt auch die Anfragen bei den Frauenschutzeinrichtungen." Das sonstige Sommerloch blieb in den Interventionsstellen zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und Stalking im Jahr 2020 aus."

Rolaf Boye vom Kinderschutzbund blickt dem jetzigen Lockdown besorgt entgegen. Er befürchtet eine hohe Dunkelziffer. Jugendhäuser hätten zumindest im Notbetrieb geöffnet bleiben müssen, sagt er. Denn Kinder oder Jugendliche würden lieber mit vertrauten Menschen sprechen, als eine fremde Person anzurufen. Er erinnert daran, wie wichtig der Beitrag von Schulen zur Prävention häuslicher Gewalt sei.

Ein sicheres Familienzimmer pro 10.000 Einwohner - Das hat Sachsen noch lange nicht

Neben der angespannten Pandemie-Situation stellen die Schutzverbände noch weitere Forderungen an die Politik. So wünscht sich die Vorsitzende des sächsischen Landesfrauenrats Susanne Köhler eine bessere und einheitliche Finanzierung der Frauenhäuser. Zwar gibt es derzeit einen Beschluss von CDU, SPD und Bündnis90/Grüne, die Schutzeinrichtungen auszubauen, doch wann der Beschluss ausgeführt wird, ist noch unklar.

Denn über den Doppelhaushalt für 2021/22 hat der Landtag noch nicht abgestimmt. Damit sei die derzeitige Situation in Frauenschutzhäusern und Interventionsstellen angespannter als sonst, erklärt Sindy Lohberg von gewaltfreies Zuhause Sachsen. Sie fordert zudem eine langfristige gesicherte Finanzierung.

3,3 Millionen Euro für Schutzeinrichtungen im Jahr 2019

Ein weiteres Manko im Beschluss der Regierungsfraktionen bleibe der Mann als Opfer. Zwar richten sich rund 80 Prozent der Gewalttaten im Familienkreis gegen Frauen und Mädchen, aber auch Jungen und Männer sind betroffen. Männerschutzwohnungen werden erst seit drei Jahren angeboten. In ganz Sachsen gibt es etwa 260 Plätze für Frauen und neun Plätze für Männer. Und diese seien fast immer voll, sagt Sascha Möckel vom Männernetzwerk Dresden, ob mit oder ohne Corona. Seine zwei Wünsche an Politik und Bevölkerung: "Dass wir über Gewalt in Familien sowie Partnerschaften sprechen können und es nicht in ein bestimmtes Milieu schieben. Frauen als Täterinnen - das sollte kein Tabuthema sein." Männerschutzwohnungen werden bisher noch nicht regelfinanziert.

Ob Mann, Frau oder Kind: Je länger der Lockdown anhält, desto größer wird voraussichtlich die Dunkelziffer. "Mit zunehmender Dauer des zweiten Lockdowns nehmen die Anfragen in den Frauenschutzeinrichtungen ab", sagt Sindy Lohberg. Eine Botschaft möchten aber alle Verbände noch loswerden: Beratungsstellen und Schutzwohnungen sind trotz Corona erreichbar und arbeiten weiter.

Sie sind von Gewalt betroffen oder kennen Menschen, bei denen Sie darum fürchten? Holen Sie sich Hilfe:

  • Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen: 0800-0116016
  • Nummer gegen Kummer (deutschlandweit kostenlos für Kinder und Jugendliche): 116 111
  • Hilfstelefon für Erwachsene: 0800-111 0550
  • Anonyme Mädchenzuflucht: 0351-2519988
  • Kind- und Jugendnotdienst Dresden: 0351-2754004
  • Opferhilfe-Sachsen.de: 0351-8010139
  • Schutz für Männer: 0351-32345422
  • Krisennotdienst des Gesundheitsamts: 0351-8 041616
  • Helpmail in Krisen: u25-dresden.de

Wenn sie Täter oder Täterin von häuslicher Gewalt sind, finden sie in den Täterberatungsstellen in Sachsen einen Ansprechpartner:

  • Region Leipzig, Landkreis Leipzig und Nordsachsen: 03413502133
  • Region Zwickau, Freiberg, Chemnitz und Umgebung 03714320828
  • Region Dresden, Landkreis SOE (Pirna) und Landkreis Meißen 0351 / 810 43 43

Eine Übersicht aller Frauenschutzhäuser in Sachsen findet sich unter folgender Webseite.