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Jeder Dritte hat in der Pandemie zugenommen

Eine neue Studie zeigt die negativen Folgen der Corona-Zeit auf das Essverhalten. Ärzte sagen mehr Wohlstandskrankheiten voraus.

Von Katrin Saft
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Schon wieder mehr auf der Waage.
Schon wieder mehr auf der Waage. © 123rf

In der Pandemie geht es oft nur um Infektionszahlen. „Doch die langfristigen gesundheitlichen Schäden durch falsches Essverhalten dürften deutlich größer sein“, sagt Hans Hauner, Professor für Ernährungsmedizin an der TU München. Allerdings gebe es in Deutschland dazu bislang kaum wissenschaftliche Erhebungen.

Hauner, der das Else Kröner-Fresenius- Zentrum für Ernährungsmedizin an der TU leitet, hat deshalb gemeinsam mit den Meinungsforschern von Forsa eine repräsentative Befragung in Auftrag gegeben. Mehr als 1.000 18- bis 70-Jährige sollten dabei von Ende Mai bis Anfang Juni ihr Essverhalten im Vergleich zu vor der Pandemie einschätzen. Eine ähnliche Umfrage hatte es bereits vor einem Jahr gegeben. Das am Donnerstag vorgestellte Ergebnis: An den negativen Effekten hat sich im zweiten Corona-Jahr wenig geändert. Vor allem in sozial schwachen Gruppen haben sie sich sogar verfestigt und verstärkt.

6,5 Kilogramm mehr Gewicht

So gaben 35 Prozent der Befragten an, seit Coronabeginn zugenommen zu haben – im Durchschnitt 6,5 Kilogramm. Je dicker sie schon vor der Pandemie waren, desto mehr Gewicht legten sie zu. Von den bereits adipösen Menschen mit einem Body-Mass-Index von über 30 nahm mehr als jeder Zweite weiter zu – im Schnitt 8,4 Kilogramm. Die Wissenschaftler konnten dabei einen klaren Zusammenhang mit gesunkener Bewegung und ungesunder Ernährung nachweisen. So griffen Übergewichtige in der Coronazeit deutlich häufiger zu mehr Süßigkeiten, Kuchen, Keksen und Knabberartikeln als vorher. Jeder vierte Befragte nutzte in der Pandemie öfter Lieferdienste oder aß außerhalb „to go“.

Ursache seelische Belastung

„Eine weitere Ursache für eine ungünstige Veränderung des Essverhaltens ist die seelische Belastung“, sagt Hauner. „Immerhin fühlten sich noch 62 Prozent der Befragten von der Pandemie psychisch belastet.“ Diese Menschen würden häufiger aus Langeweile oder zur Belohnung essen, mehr Zwischenmahlzeiten und größere Portionen als zuvor konsumieren.

Die Studie zeigt aber auch einen gegenteiligen Effekt: So erklärten 15 Prozent der Befragten, in der Pandemie abgenommen zu haben – im Mittel fast acht Kilogramm. „Das deckt sich mit den Ergebnissen anderer Studien“, erklärt Professorin Martina de Zwaan, Leiterin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover. Zwar könne das auf eine gesündere Lebensweise hindeuten, weil das Leben weniger hektisch gewesen und mehr gekocht worden sei. „Doch auffällig ist nicht nur, dass überraschend viele 18- bis 29-Jährige, sondern auch überdurchschnittlich viele Untergewichtige weiter abgenommen haben“, sagt Zwaan. Im Klartext: Auch Magersucht hat zugenommen.

Niemand will dick sein

Ursachen könnten laut Zwaan soziale Isolation, eine häufigere Konfrontation mit dem Schlankheitsideal in sozialen Medien und ein verzögerter Zugang zur ambulanten Behandlung sein.„Die Befragung zeigt, dass sich Lebensstil und Lebensqualität vieler Menschen in der Corona-Situation dauerhaft ungünstig verändert haben“, sagt Ernährungsmediziner Hauner. „Vor allem Menschen mit niedrigem Sozialstatus schaffen es nicht aus eigener Kraft, ihre Gesundheit zu schützen.“

Bereits vor der Pandemie hatten etwa zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen in Deutschland Übergewicht. Schätzungen zufolge gehen rund 15 Prozent aller Todesfälle und jährlich 17 Milliarden Euro Gesundheitskosten in Deutschland auf falsche Ernährung zurück. Hauner befürchtet, dass es infolge der Pandemie in den kommenden Jahren zu einem weiteren Anstieg gewichtsabhängiger und lebensstilbedingter Krankheiten kommen wird. „Wenn politisch nichts passiert, haben wir bald 50 Prozent mehr Neuerkrankungen bei Diabetes Typ 2“, sagt er. „Doch das Bundesgesundheitsministerium hat das Problem bislang ausgeblendet.“

Ernährungsberatung nötig

Seit Jahren schon gibt es Vorschläge wie eine Zuckersteuer, das Verbot von Werbung für ungesunde Kinderprodukte oder eine geringere Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse, um die Deutschen zu einer gesünderen Ernährung zu bewegen. Doch umgesetzt wurden sie nicht. „Niemand will dick sein“, sagt Hauner. Deshalb brauche es eine Aufklärungskampagne und Hilfsangebote auf allen Ebenen – dem Bund, der Krankenkassen, aber auch der kommunalen Gesundheitsbehörden. Der Mediziner wünscht sich, dass die Ernährungsberatung von den Kassen wieder bezahlt wird. „Sie ist Grundlage für die Veränderung des Ernährungsverhaltens und damit für die Behandlung vieler Wohlstandskrankheiten“, sagt er. Dass die Deutschen immer dicker würden, liege nicht nur am Einzelnen, sondern an den Bedingungen: der ständigen Verfügbarkeit von Ungesundem und der geschickten Werbung dafür.