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Johanna beißt sich durch - die ungewöhnliche Geschichte einer Bäckergehilfin

Johanna Strauß war die erste Schülerin mit Autismus an der Scultetus-Oberschule in Görlitz. Der Weg war nicht immer einfach für die 25-Jährige. Doch bei der Bäckerei Geißler in Ostritz sind sie begeistert von ihr.

Von Marc Hörcher
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Johanna Strauß bei ihrer täglichen Arbeit in der Produktion der Bäckerei Geißler in Ostritz
Johanna Strauß bei ihrer täglichen Arbeit in der Produktion der Bäckerei Geißler in Ostritz © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Ein gewöhnlicher Donnerstagvormittag in der Produktion der Bäckerei Geißler in Ostritz. Johanna Strauß öffnet die Tür eines Kühlraums. Verschiedene Teiglinge lagern dort, von Brötchen bis Croissants. Die 25-Jährige hat die Aufgabe, die Stückzahlen zu prüfen und beim Verpacken und Veredeln zu helfen. Gerade das Kopfrechnen bekomme die junge Frau supergut hin, bescheinigt ihr Robert Ritter, einer der beiden Geschäftsführer der Bäckerei Geißler. Der Grund: Die junge Frau ist Autistin und rechnet schneller als mancher Mensch, der diese Einschränkung nicht hat, sagt Ritter. Bei Frau Strauß wurde ein Grad der Behinderung von 80 Prozent festgestellt.

Johanna Strauß selbst ist durchaus stolz auf sich selbst. Wenn es um ihre Fähigkeiten geht, äußert sie sich jedoch eher vorsichtig zurückhaltend bis bescheiden: „Kein Genie“ sei sie, allerdings, „denke ich auch nicht, dass ich dumm bin“ - zwei der vielen Vorurteile, mit denen sie im Alltag bereits oft konfrontiert wurde. Überhaupt, der Weg hier in diesen Betrieb, in dem sie sich mittlerweile so gut integriert hat, war für sie alles andere als leicht.

An der Scultetus-Oberschule in Görlitz war Strauß die erste Schülerin mit Autismus. Dort hat sie vor neun Jahren ihren Abschluss gemacht. Die SZ berichtete damals. Obwohl anfangs nicht immer alles leicht war, gelang die Inklusion: Auf ihrem Abschlusszeugnis standen gute Noten. Ein Berufsvorbereitungsjahr folgte, dann eine Ausbildung in Hauswirtschaft und eine Lehre als Bäckergehilfin in Greifswald an der Ostsee in einer Behindertenwerkstatt. In letzterer hätten sie die junge Handwerkerin auch übernommen, aber der Stundenlohn wäre dort so gering gewesen, dass ihre Familie sie weiter hätte unterstützen müssen. Für Johanna kam das nicht infrage: „Ich liebe meine Familie, deshalb möchte ich ihnen nicht auf der Tasche liegen“, sagt die junge Frau. Tatsächlich wird in deutschen Behindertenwerkstätten kein Mindestlohn gezahlt, immer wieder ist dieser Umstand ein kontrovers diskutiertes Thema.

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Ohnehin wollte sie wieder näher an ihrer Familie in Görlitz sein. Die Suche nach einer neuen Stelle verlief nicht immer leicht, schildert sie. Auf manche Bewerbungsschreiben erhielt sie gar keine Antwort. „Und das, obwohl ich vom Arbeitsamt als vollkommen berufsfähig eingestuft wurde“, sagt sie. Sie absolvierte ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Klosterbäckerei St. Marienstern Panschwitz-Kuckau im Landkreis Bautzen, suchte dann weiter nach einer Festanstellung.

Doch längst nicht überall wurde sie mit solch offenen Armen empfangen wie später bei ihrem jetzigen Arbeitgeber. Sie fasste kurzzeitig Fuß in einem anderen Bäckereibetrieb, fühlte sich dort aber von manchen Mitarbeitern behandelt wie „ein Mensch zweiter Klasse“, wie sie es selbst ausdrückt. Sie sieht sich Vorbehalten und Ressentiments ausgesetzt, muss sich von manchen Kollegen oder Vorgesetzten gar Beleidigungen anhören. In einem anderen Betrieb wird sie abgelehnt, „weil der Chef - ich zitiere - ‚so etwas wie mich‘ den anderen nicht zumuten wollte“ - dabei habe sie sich eigentlich gut verstanden mit den potenziellen Kollegen. Wütend und traurig machten sie solche Äußerungen. Aber „es könnte schon sein, dass das auch ein Ansporn war, zu beweisen, dass Autisten es auch mit normaler Arbeit aufnehmen können“, sagt sie.

Lügen kann sie, In-die-Augen-schauen auch

Autismus ist eine soziale Anpassungsstörung. Es gibt sie in unterschiedlichen Ausprägungen - deswegen nennt man die Behinderung in der Fachwelt seit einigen Jahren auch „Autismus-Spektrum-Störung“. Frau Strauß sagt im Interview weiterhin einfach Autismus - und beschreibt den ihren so: „Ich habe öfter Probleme mit Menschen, die ich nicht kenne, ein Gespräch anzufangen“ - und auch ihre Lerngeschwindigkeit beim Arbeiten sei früher langsamer gewesen.

Doch das habe sich verbessert. Überhaupt habe sie einiges gelernt - etwa, Menschen bei Gesprächen in die Augen zu schauen. Viele meinen immer, Autisten können das nicht, sagt die Handwerkerin - doch in ihrem Fall sei auch das ein Klischee, das nicht stimme: „Es geht eher darum, dass ich früher nicht wusste, dass es anderen Menschen so viel bedeutet, dass ich ihnen in die Augen schaue“, erklärt sie. Ein anderes Klischee sei, dass Autisten nicht lügen können. Stimme auch nicht, sagt sie - schließlich habe sie eine Zeit lang hobbymäßig in einer Theatergruppe gespielt - und Theaterspielen ohne zu lügen - wie solle das denn bitte gehen? Auch Liebe und Empathie könne sie durchaus empfinden. Sie sei sogar, sagt sie über sich selbst, in manchen Bereichen „vielleicht empfindlicher als andere. Aber ich versuche, mich durchzubeißen.“

Beruflich gelingt ihr das. Über Umwege bewirbt sie sich in der Produktion der Bäckerei Geißler in Ostritz, wird zum Probearbeiten eingeladen, überzeugt dort, kündigt den ungeliebten alten Job, zieht nach Ostritz, startet neu durch - und ist dort nun seit einem Jahr bei "Geißler" voll integriert. „Wir haben unsere Mitarbeiter am Anfang dafür sensibilisiert, dass eine neue Kollegin kommt mit Autismus - das ist gut gelungen“, findet Robert Ritter, einer der beiden Geschäftsführer.

Die Leistung von Frau Strauß ist tatsächlich ungewöhnlich: Von einer vollen Eingliederung von Autisten mit diesem Grad der Behinderung ins Berufsleben höre man „relativ selten“ - die meisten, die es schaffen, weisen eher einen Grad von 50 Prozent auf, ordnet es Stefan Bergmann vom Autismuszentrum Chemnitz ein.

Robert Ritter ist jedenfalls froh, dass Johanna Teil des Teams ist - und sogar so überzeugt von ihrer Arbeit, dass er sie bald auch zusätzlich in der Herstellung der Brötchenteige einsetzen will.