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"Ich war eine der Glücklichen"

Ursula Totschek feierte kürzlich ihren 95. Geburtstag. Sie ist eine der letzten Görlitzer Jüdinnen. Ihre Geschichte zur Erinnerung am heutigen Holocaust-Tag.

Von Susanne Sodan
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Bianca, Ursula, Walter und Gerti Totschek 1939. Kurz nach Aufnahme des Bildes gelangte Ursula Totschek mit einem Kindertransport nach England.
Bianca, Ursula, Walter und Gerti Totschek 1939. Kurz nach Aufnahme des Bildes gelangte Ursula Totschek mit einem Kindertransport nach England. © United States Holocaust Memorial

Da sind so viele Erinnerungen an Görlitz. An das Café Handschuh, wo Ursula Totschek gemeinsam mit ihrer Schwester Gerti und ihrem Vater Kuchen gegessen hat. "Sie erzählt davon immer mit Freude", sagt Tamara Meyer, die Tochter von Ursula Totschek – eine der letzten gebürtigen Görlitzer Jüdinnen, die die Shoah überlebt haben.

Ursula Totschek lebte bis 1936 mit ihrer Familie in Görlitz.
Ursula Totschek lebte bis 1936 mit ihrer Familie in Görlitz. © privat

Wie sie als Kind oft die breite, schöne Treppe im Kaufhaus Totschek hinaufgelaufen ist, um ihren Vater im Büro zu besuchen: Walter Totschek war der Inhaber des Bekleidungsgeschäftes an der Steinstraße. Er, seine Frau Bianca und Gerti konnten 1941, kurz vor Ausreiseverbot, in die USA emigrieren. Die jüngere Tochter Ursula verließ Deutschland schon früher: mit einem Kindertransport nach Großbritannien.

Ursula Totschek lebt heute in Washington. Am 21. Januar wurde sie 95 Jahre alt.
Ursula Totschek lebt heute in Washington. Am 21. Januar wurde sie 95 Jahre alt. © privat

"Ich war eine der Glücklichen", sagte sie häufig in den vergangenen 20 Jahren. Früher, erzählt Tamara Meyer, habe ihre Mutter nie über ihre Erfahrungen, ihr Leben im Nationalsozialismus erzählt. Aber ein Gedanke habe Ursula Totschek immer begleitet: "So viele ihrer damaligen Mitschüler wurden ermordet oder mussten Schlimmes durchmachen."

Ihnen gilt der 27. Januar, der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Erinnerungen aus erster Hand gibt es kaum noch. Görlitz hatte einst die größte jüdische Gemeinde der Oberlausitz. Zu Hochzeiten um 1900 lebten hier bis zu 700 Juden. 1933 waren es noch 376. Mindestens 146 von ihnen wurden bis 1945 ermordet. Von den Überlebenden kehrte kaum jemand nach Görlitz zurück. Ruth Pilz gehörte zu den ganz wenigen, sie starb hier vor fast einem Jahr. John Katten, Sohn eines Görlitzer Rabbiners, starb 2019. Erst vor wenigen Monaten verstummte eine weitere Stimme: Gerti Totschek starb in den USA.

Auch ihre Schwester Ursula ist heute in den USA, in Washington. Am 21. Januar feierte sie ihren 95. Geburtstag, ihre Familie und Freunde schickten Grüße – dieses Mal per Geburtstagsvideo. Darin sind Fotos aus Ursula Totscheks Leben eingebettet. Kinderfotos, wahrscheinlich aus Görlitzer Zeiten. Auf einem Bild geht sie mit Gerti und ihrem Vater in Berlin spazieren, wohin Totscheks 1936 zogen.

Zuvor war die Familie mit ihrem Kaufhaus vom "Judenboykott" 1933 betroffen, von Angriffen durch SA-Angehörige. Eine der schlimmsten Erinnerungen für Ursula Totschek: In der Schule habe ein Lehrer den anderen Kindern erlaubt, mit Steinen nach ihr, dem jüdischen Kind, zu werfen. Die zunehmend kritische Lage in den Schulen sei einer der Gründe für den Weggang der Familie aus Görlitz gewesen, sagt Tamara Meyer.

Noch zusammen; Ursula, Walter und Gerti Totschek in Berlin.
Noch zusammen; Ursula, Walter und Gerti Totschek in Berlin. © privat

In Berlin besuchte Ursula Totschek die bekannte Holdheim-Schule. Dort sei sie zunächst glücklich gewesen. Konzerte des Kulturbundes besuchte sie mit ihrem Vater, fand neue Freunde. An einen Mitschüler erinnert sie sich besonders: Peter Schiff, später in Holland der erste Schwarm von Anne Frank. "Meine Mutter fand ihn auch ganz charmant", erzählt Tamara Meyer. 1945 kam er in Auschwitz ums Leben. Die Repressionen nahmen zu. In den Zoo sei sie nach der Schule gerne gegangen, viel anderes sei den jüdischen Kindern nicht geblieben. Die Reichspogromnacht 1938 verband sie mit der Erinnerung, wie sie am nächsten Tag durch zerbrochenes Glas zur Schule lief.

Ursula Totschek im Berliner Zoo - mit Löwenbaby.
Ursula Totschek im Berliner Zoo - mit Löwenbaby. © privat

Walter Totschek hatte sein Kaufhaus zunächst mit drei Mitarbeitern in eine Offene Handelsgesellschaft gewandelt. Nach der Reichspogromnacht verkaufte er es an einen davon, Theodor Bruns. Mit ihm soll die Familie Totschek befreundet gewesen sein. Über die Bedingungen des Verkaufs herrschen unter den Nachfahren beider Familien aber bis heute gegensätzliche Meinungen. Es gab deshalb einen langen Rechtsstreit.

November 1938, eine Zeit riesiger Angst für die Familie Totschek. Im Juli 1939 setzte Walter Totschek seine jüngere Tochter in einen Zug nach Rotterdam. Damals sahen sich die beiden zum letzten Mal: Walter Totschek starb 1944 in den USA. Die damals 13-jährige Ursula reiste allein, dann ging es per Schiff nach Großbritannien. Dort erwarteten sie entfernte Verwandte und brachten sie in ein Heim, in dem auch andere Flüchtlinge lebten, allerdings größtenteils Erwachsene.

Wohl fühlte sich Ursula aber erst in Whitby an der englischen Ostküste, wo sie eine große Familie aufnahm, die eine Bäckerei betrieb. Auf der anderen Seite des Glücks in Whitby stand die Angst: Gerti, Bianca und Walter Totschek versuchten Visa zu bekommen, um Deutschland verlassen zu können. 1941 klappte es – nach nervenzehrenden Versuchen und Enttäuschungen.

1948 ging auch Ursula in die USA, um näher bei Gerti und ihrer Mutter zu sein. Dennoch sei es ein schwerer Abschied aus England gewesen, sagt ihre Tochter. In New York besuchte Ursula Totschek das Hunter College. In ihrer Studentenzeit lernte sie ihren späteren Ehemann Eric Meyer, einen Mannheimer Juden, kennen. Gemeinsam zogen sie nach Wyoming und bekamen drei Kinder: Tamara, Catherine und Paul. Tamara Meyer sagt, sie habe ihre Mutter als eine äußerst belastbare, gefestigte Frau erlebt. Als tiefsinnig, aber nie humorlos. "Vielleicht, weil sie in so jungen Jahren ihren Weg finden musste."

Mit ihrer Familie war Ursula Totschek seit Mitte der 1990er dreimal in Görlitz. Es seien bittersüße Besuche gewesen, sagt ihre Tochter. Auf der einen Seite stehen die negativen Erinnerungen an den Streit um das Totschek-Kaufhaus: "Der Kampf mit der Familie, die ihr Eigentum übernommen hatte, war sehr erbittert."

Tamara Meyer kennt aber auch schöne Erinnerungen ihrer Mutter an die Stadt. Mit den Familien Löwenthal und Stern seien Totscheks gut befreundet gewesen. An die "Kaviarpartys" ihrer Mutter – ein bisschen Salonkultur in Görlitz – könne sich Ursula Totschek gut erinnern.

Die Bäckerei Botham's sorgte für ein besonderes Geschenk.
Die Bäckerei Botham's sorgte für ein besonderes Geschenk. © privat

Die schönsten Erinnerungen habe sie aber wahrscheinlich an Whitby. Die Familie, bei der Ursula Totschek lebte, hieß Botham. Und ihre Bäckerei gibt es bis heute – von da ging ein Kuchen zum 95. Geburtstag nach Washington.

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