Verkehrspsychologe: "Autofahrer haben das Gefühl, dass ihnen etwas weggenommen wird"
Autofahrer, die Klimakleber von der Straße zerren, Radfahrer, die Autos den Weg schneiden, Fußgänger, die gegen Radfahrer wettern: Ein Psychologe erklärt, warum es im Verkehr immer wieder zu Konflikten kommt.
Dresden. Fast 100.000 Unfälle und mehr als 16.000 Verletzte hat es im vergangenen Jahr auf Sachsens Straßen gegeben. Hauptursachen waren zu hohes Tempo, Vorfahrtsverletzung und ungenügender Sicherheitsabstand. Nicht nur die zunehmende Anzahl an Fahrzeugen, enge Straßen oder schlecht einsehbare Kreuzungen haben dazu beigetragen. Auch Emotionen fahren mit und verleiten immer wieder zu aggressivem Verhalten. Jens Schade ist Verkehrspsychologe an der TU Dresden und erklärt, wie es zu Konkurrenzsituationen kommt, ob Frauen die gelasseneren Autofahrer sind, und wie der Verkehr - aus psychologischer Perspektive - sicherer gestaltet werden kann.
Herr Dr. Schade, Autofahrer schimpfen über Autofahrer, Radfahrer über Autofahrer, Fußgänger über Radfahrer: Woher rührt die ständige Konkurrenz auf der Straße?
Wir haben einen begrenzten Verkehrsraum. Und je mehr Objekte in diesem Raum unterwegs sind, umso mehr Konflikte gibt es. Das heißt aber nicht automatisch, dass Verkehrsteilnehmer auch aggressiv werden.
Ist diese Konkurrenz mittlerweile politischer bzw. ideologischer Natur geworden?
In Deutschland ist lange Zeit der Autoverkehr gefördert worden. Wirtschaftswachstum konnte nur mit Verkehrswachstum einhergehen, so die damalige Vorstellung. Alles wurde ausgebaut, man muss sich nur die autogerechten Städte im Ruhrgebiet anschauen. In den vergangenen Jahren hat in den meisten Stadtverwaltungen nun ein Paradigmenwechsel stattgefunden – hin zu einer Förderung der ökologischen und stadtverträglichen Verkehrsmittel. Ein Teil des Straßenraums ist umgewidmet worden, unter anderem zu Radwegen. Autofahrer haben in der Folge das Gefühl gewonnen, dass ihnen etwas weggenommen wird. Hinzugekommen ist der Eindruck, dass wenig für sie getan wird – beispielsweise auf der Stauffenbergallee oder der Königsbrücker Straße in Dresden. Wie viele Jahre dort nichts gemacht worden ist. Dadurch entstehen natürlich Konflikte. Das wird sich aus meiner Sicht auch nicht völlig lösen lassen.
Was meinen Sie damit?
Ich gehöre zu einem Jahrgang, in dem es selbstverständlich war, dass man mit 18 seinen Führerschein gemacht hat. Das war ein Ausdruck von Freiheit und Unabhängigkeit. Für junge Leute war es auch ein Ausdruck, sich gesellschaftlich abzuheben. Bei Fridays-for-Future oder Letzte Generation sehen wir heute sehr viele junge Leute, denen umwelt- und klimaverträgliche Mobilität wichtig ist. Ihnen steht nun dieses ältere Klientel gegenüber, das sehr stark autosozialisiert ist.
Platz für alle Verkehrsteilnehmer, alle Interessengruppen wird es nicht geben?
Ich denke, dass man über die Infrastruktur einiges erreichen kann, indem man zum Beispiel den Rad- und Autoverkehr stärker trennt. Für den Autoverkehr hat man es geschafft, eine in sich geschlossene Infrastruktur zu schaffen. Das haben wir beim Radverkehr bei weitem noch nicht erreicht. Haben wir das irgendwann, dann sind zwischen diesen beiden Gruppen viele Konflikte nicht mehr zu erwarten.
Sie sprechen zum Beispiel reine Fahrradstraßen an, die parallel zu Kfz-Straßen verlaufen?
Ich plädiere nicht generell für eine komplette Trennung, das ist unrealistisch. Aber es sollte Abschnitte geben, auf denen ich als Radfahrer erwarten kann, dass kein Auto mein Weg kreuzt – und andersherum. Aus psychologischer Sicht ist das wichtig.
Sie haben selbst gesagt, dass aus Konkurrenz nicht automatisch Aggression wird. Im Fall der Blockaden von "Letzte Generation" haben Autofahrer aber schon des Öfteren Klimakleber von der Straße gezerrt.
Ich denke, hier spielt das Gefühl eine entscheidende Rolle, dass einem etwas weggenommen wird, die Straße in diesem Fall. Ich habe mich in früheren Arbeiten mit der Akzeptanz von Straßenbenutzungsgebühren befasst. Auch da gab es Übergriffe, allerdings von Autofahrern auf Mautstationen. Maut ist als eine ungerechte Maßnahme empfunden worden, eine Veränderung des Status quo für Autofahrer. Ich denke, diese Gefühle werden bei solchen Demonstrationen in Form von Handlungen sichtbar.
Mehr als 9.000 Menschen aus Ost- und Mittelsachsen haben für den Mobilitätskompass Einblick in ihr Mobilitätsverhalten gegeben. Der Mobilitätskompass wurde unter wissenschaftlicher Begleitung der Evangelischen Hochschule Dresden und in Kooperation mit der Agentur "Die Mehrwertmacher" entwickelt und ausgewertet, die darauf geachtet haben, dass die Aussagen belastbar sind. Bis Anfang Dezember veröffentlicht Sächsische.de die regionalen und lokalen Ergebnisse. Alle erschienenen Beiträge finden Sie auch auf www.saechsische.de/mobilitaetskompass
Alltäglicher sind Aggressionen in Form von gefährlichen Überholmanövern, Hupen an Ampeln, Überfahren von roten Ampeln und Drohungen. Was bringt Verkehrsteilnehmer dazu?
Welche Motivation im Einzelnen hinter einer Raserei steckt, lässt sich natürlich nur schwer herausfinden. Will man schneller vorankommen oder spielen Emotionen eine Rolle? Wut und Rache sind in erster Linie immer gegen andere Personen gerichtet. Bei aggressiven Handlungen, die sich daraus ergeben, wird in Kauf genommen, andere zu schädigen, zum Beispiel, wenn jemand bewusst zu schnell fährt.
Welche Faktoren können diese Emotionen verstärken?
Hitze spielt eine Rolle, das ist belegt. Aber auch körperliche Anstrengung. Bin ich als Fahrradfahrer ausgearbeitet, kann das tendenziell schneller zu Ärger und Aggression führen, wenn sich der Radfahrer zum Beispiel provoziert fühlt.
Interessant ist auch das Gefühl der Anonymität, also die Vorstellung, in meinem Wagen nicht erkannt und somit für aggressives Verhalten nicht belangt zu werden. Auch die eingeschränkte Kommunikation, die schnell zu Missverständnissen im Straßenverkehr führen kann, fördert aggressive Handlungen, in erster Linie zwischen Autos, danach zwischen Auto- und Radfahrern. Enge ist ein weiterer bekannter Faktor für Aggression – Stau, Menschenmassen, enge Straßen.
Sind Frauen im Straßenverkehr denn gelassener unterwegs?
Ja, das ist definitiv eine Geschlechtersache. Männer sind bei aggressivem Verhalten deutlich überrepräsentiert. Der Verkehr ist hier eine Miniatur des gesamtgesellschaftlichen Lebens. Aggression ist aber auch vom Alter abhängig. So sind junge Männer ebenfalls überrepräsentiert. Darüber hinaus kommen Persönlichkeitsmerkmale dazu. So gibt es Personen, die auf Frustration häufiger mit Wut oder Ärger antworten.
Und es gibt ein persönliches, optimales Erregungslevel, bei dem sich Menschen wohlfühlen. Manche Personen versuchen, dieses Level beim Autofahren zu regulieren, etwa über die Geschwindigkeit – höheres Tempo, höheres Erregungslevel, niedrigeres Tempo, niedrigeres Level. Auch das führt zu Konflikten.
Was kann ich als Verkehrsteilnehmer tun, damit ich in Stresssituationen nicht aggressiv reagiere und mich und andere gefährde?
Ein Fahrzeug ist für viele Menschen die größte Maschine, die sie in ihrem Leben bedienen. In einer extrem reglementierten und sozial normierten Welt können sich manche Personen damit ausleben und ihr Erregungslevel steigern. Schnellsein ist für sie ein Ventil. Das wird man mit guten Ratschlägen nicht ändern können.
Für die anderen, ja: Da gibt es die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln, sich in andere Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen. Autofahrer können darüber nachdenken, dass auch sie sich am Wochenende auf das Rad setzen, von Autos überholt werden und sich dabei unsicher fühlen.
Dieser Perspektivwechsel ist aber wenig erfolgsversprechend. Wenn man schaut, wie viele Beziehungskonflikte es gibt – zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern oder Ehepartnern -, dann wären ja viele von denen gelöst, indem man einfach sagt: Versetz‘ dich doch mal in den anderen hinein. Die Leute bekommen das in Stresssituationen aber nicht hin. Wenn ich hinter dem Hutfahrer hinterherkrieche, platzt dann eben die Hutschnur.
Es gibt also gar nichts, dass mein Verhalten beeinflussen könnte?
Was erfolgreich funktioniert, sind sogenannte Dialog-Displays vor sensiblen Orten wie Kindertagesstätten oder Schulen. Dort wird die Geschwindigkeit der herannahenden Fahrzeuge gemessen. Halten sich die Fahrer an das Tempolimit, bekommen sie über die Anzeigetafel eine Rückmeldung wie "Danke!" oder einen lachenden Smiley. Das wirkt, das ist Verhaltenskontigenz: Ich mache etwas richtig und werde dafür belohnt oder ich mache etwas falsch und werde bestraft.
Der Mobilitätskompass - Mitmachen und Reise gewinnen
Worum geht es? Der Mobilitätskompass ist eine Umfrage zu Mobilitätsangeboten und -wünschen in der Region. Die Umfrage wurde mit wissenschaftlicher Unterstützung der Evangelischen Hochschule Dresden entwickelt. Jeder kann sich beteiligen.
Wie kann ich teilnehmen? Den Fragebogen finden Sie im Internet unter www.saechsische.de/mobilitaetskompass . Die anonyme Umfrage läuft bis Ende September. Die Ergebnisse werden wissenschaftlich ausgewertet und im November präsentiert.
Warum mitmachen? Mit Ihren Antworten helfen Sie, dass ihre Meinung gehört wird. Die Kompass-Befragungen der Sächsischen Zeitung zeichnen nicht nur ein Stimmungsbild, sie führen auch zu Veränderungen. Darüber hinaus haben Sie die Chance, an einer Verlosung teilzunehmen und attraktive Preise zu gewinnen, unter anderem eine Wanderreise für zwei Personen an die Amalfi-Küste nach Italien.