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Wie die soziale Frage den Kreis Görlitz belastet

Am 12. Juni wird ein neuer Landrat gewählt. Wie es in unterschiedlichen Bereichen aussieht, beschreibt die SZ. Heute: Pflege, Armut, Jugendhilfe.

Von Gabriela Lachnit
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Knapp 3.800 vollstationäre Pflegeplätze gibt es im Kreis Görlitz, die meisten davon in Pflegeheimen.
Knapp 3.800 vollstationäre Pflegeplätze gibt es im Kreis Görlitz, die meisten davon in Pflegeheimen. © André Schulze

Knapp 250.000 Menschen leben im Landkreis Görlitz. Den Einwohnern steht ein umfassendes soziales Netz zur Verfügung, sagt der Landkreis. Doch wie so oft steckt die Tücke im Detail. Denn viel Positivem stehen auch Probleme entgegen. Nicht alle kann der Kreis allein lösen.

Große Herausforderung ist die Pflege

Im Landkreis Görlitz leben anteilig mehr ältere Menschen als vergleichsweise in Dresden. Hauptursache dafür ist die Entwicklung des Kreises nach der Wende. Junge Menschen zogen mangels ausreichender Arbeitsmöglichkeiten weg und fanden in den Altbundesländern eine neue Heimat. Die Älteren blieben. Sie bilden nun einen großen Anteil der Bevölkerung - was sich deutlich auf die Pflegeinfrastruktur auswirkt: Der Bedarf an Pflegeplätzen ist hoch, auch wenn rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause durch Angehörige und/oder ambulante Pflegedienste betreut werden. Hier verzeichnet der Kreis in den letzten Jahren den größten Anstieg. Die ambulante Betreuung liegt im Kreis Görlitz zudem deutlich über dem sächsischen Durchschnitt: In Sachsen wurden 2017 für etwa 40 Prozent der zu Hause Gepflegten ambulante Dienste in Anspruch genommen.

Aktuell hat der Landkreis Görlitz 58 vollstationäre Pflegeheime. Hinzu kommen drei Wohnpflegeheime für schwerst mehrfach behinderte Menschen und zwei Wachkomastationen mit zusammen 3.779 Plätzen. Die Plätze verteilen sich – historisch gewachsen – ungleichmäßig über den Landkreis. Im Norden stehen statistisch gesehen 84 Plätze je 1.000 Einwohner über 80 Jahre zur Verfügung. In Görlitz sind es 149 Plätze, im Süden gibt es 183 Plätze je 1.000 Einwohner über 80 Jahre. Im Heim ist die durchschnittliche Verweildauer immer weiter gesunken, gleichzeitig stieg das durchschnittliche Einzugsalter der Menschen auf deutlich über 80 Jahre.

Das größte Problem für alle, die in einem Pflegeheim leben, sind die stark steigenden Pflegekosten. Der Eigenanteil frisst nicht nur häufig die Rente auf, sondern der Staat greift auf Ersparnisse und in Einzelfällen auch auf die Vermögen von Kindern zu. Bislang sind alle Bemühungen auf Bundesebene gescheitert, daran grundlegend etwas zu ändern. Dadurch wird auch der Kreis-Haushalt belastet: Wer nicht mehr zahlen kann, kann Sozialhilfe beantragen.

Seit der letzten Landratswahl vor sieben Jahren gab es nur wenige Veränderungen im stationären Pflegebereich. Einige vormals stationäre Einrichtungen wurden vom Träger umgewidmet in "Betreutes Wohnen", darunter in Rietschen und Löbau. Neu entstanden ist zum Beispiel das zweite Haus am Pflegeheim Oderwitz. Einzelne Einrichtungen haben Betten reduziert, indem aus Doppelzimmern Einzelzimmer wurden. Das wird sich fortsetzen, denn der Gesetzgeber sieht die Unterbringung von Pflegebedürftigen im Einzelzimmer vor. Die Arbeiterwohlfahrt Oberlausitz beispielsweise wird in ihrem Neubau am Zentralhospital in Görlitz künftig ausschließlich Einzelzimmer anbieten.

Verantwortlich für die Sicherstellung der Pflegeinfrastruktur im Kreis Görlitz ist jedoch nicht der Landkreis, sondern das Land Sachsen. Fehlen dem Betreiber einer Pflegeeinrichtung Fachkräfte, muss er das gegenüber den Pflegekassen und der Heimaufsicht anzeigen. In gravierenden Fällen greift die Heimaufsicht ein und verhängt einen Aufnahmestopp. Das geschah vor Kurzem in Oderwitz, wurde inzwischen aber wieder aufgehoben.

Durchsetzung der Impfpflicht führt zu Problemen

Seit Jahren klagen Pflegeeinrichtungen über Mangel an Fachpersonal. Das blieb im Landratsamt nicht ungehört. Im September 2019 wurde zum Beispiel auf Initiative der Kreisarbeitsgemeinschaft, gefördert und moderiert vom Landkreis Görlitz, der Ausbildungsverbund Pflege gegründet. Dessen Ziel ist die Fachkräftesicherung. Das soll durch bessere Rahmenbedingungen in der praktischen Pflegeausbildung sichergestellt werden, darunter durch mehr Kompetenzen der Praxisanleiter sowie mehr Fortbildungsangebote. Neben der beruflichen Pflegeausbildung werden Pflegekräfte künftig auch an der Hochschule Zittau/Görlitz ausgebildet. Der neue Bachelorstudiengang Pflege soll demnach ein Beitrag zur Fachkräftesicherung in der Region sein.

Inwiefern die gesetzliche Impfpflicht für Pflegekräfte die Probleme der Träger verschärft, hängt von Sanktionen ab, die der Landkreis möglicherweise gegen ungeimpfte Pflegekräfte verhängt. Die Zahl dieser Menschen beträgt etwa 2.900. Doch hat Landrat Bernd Lange bereits mehrfach deutlich gemacht, dass die Versorgungssicherheit für ihn und das Landratsamt an erster Stelle steht. Mit anderen Worten: Wo viele Mitarbeiter ungeimpft sind, wird es keine Sanktionen geben.

Erstmals weniger als 10.000 Bedarfsgemeinschaften

Der Umbruch in der Wirtschaft nach 1989 führte dazu, dass viele Menschen arbeitslos wurden und ihre Erwerbsbiografien unterbrochen wurden. Das wirkt sich noch immer aus, vor allem in puncto Altersarmut. Zunehmend mehr Rentner arbeiten aus finanziellen Gründen über das Rentenalter hinaus, andere sind auf Grundsicherung angewiesen.

Das Jobcenter des Landkreises Görlitz ist aktuell für die Leistungsgewährung an 15.443 Menschen verantwortlich. 12.404 davon sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte, 3.039 sind nicht erwerbsfähig. Die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften liegt im Kreis Görlitz erstmalig unterhalb von 10.000, konkret bei 9.985, wo mehrere Personen in einem Haushalt mit einem Hartz-IV-Empfänger zusammenleben. Insgesamt sind im Landkreis Görlitz derzeit 12,5 Prozent der Gesamtbevölkerung auf staatliche Transferleistungen in Form von Arbeitslosengeld II angewiesen. Die Betreuung erfolgt über das Jobcenter, das Standorte in Görlitz, Niesky, Löbau, Zittau und Weißwasser hat.

Millionen für die Jugendarbeit

Der Landkreis Görlitz ist in Sachsen der Kreis mit der höchsten Prozentzahl an Alleinerziehenden mit Kindern. Das machte 2019 knapp 30 Prozent der Lebensformen im Kreis aus - ein Anstieg gegenüber 2015.

Gut ausgebaut ist die Betreuungslandschaft von Kindern. Insgesamt gibt es im Kreis 219 Kindertagesstätten mit Krippen-, Kindergarten- und Hortplätzen. Laut Sozialstrukturatlas des Kreises von 2019 hat der Kreis bei Krippenplätzen eine Versorgungsquote von 46 Prozent. Bei Kindergartenplätzen liegt die Versorgungsquote bei 92,7 und bei Hortplätzen bei 79,7 Prozent.

In der Jugendarbeit gab es zuletzt Streit über Ausschreibungen und Ziele der Arbeit. Juristisch gingen Organisationen gegen den Landkreis vor und feierten dabei auch Teilerfolge.

Für die Jugendarbeit gibt der Landkreis Görlitz jährlich rund 1,9 Millionen Euro aus. Das Geld kommt aus dem Kreishaushalt. Diese Mittel werden mit Landesfördermitteln aus der sogenannten Jugendpauschale ergänzt. Deren Höhe variiert jährlich. Hinzu kommen noch einmal 1,9 Millionen Euro Landesfördermittel für Schulsozialarbeit sowie für verschiedene Projekte.

Das sagen die Landratskandidaten zum Thema

Stephan Meyer (CDU)

Eine wichtige Maßnahme ist der Ausbau der Aus-, Fort- und Weiterbildung im Gesundheits- und Pflegebereich im Kreis. Darüber hinaus müssen wir Ärzte, Gesundheits- und Pflegepersonal gezielt anwerben. Die Themen "Bildungsinnovationen und Prävention" möchte ich stärken und weiterentwickeln, um jungen Menschen einen eigenständigen Lebensweg zu ermöglichen und Armut zu verhindern. Damit sollen vorbeugende Maßnahmen in Kooperation mit Jugendamt und Kommunen gebündelt und in die Fläche des Landkreises getragen werden. Ein wichtiger Fokus meinerseits liegt in der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung und der Möglichkeit für Menschen, solange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld zu leben, zum Beispiel durch den Ausbau besonderer Wohnformen.

Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Zunahme einkommensschwacher Rentner bei den gesetzlichen Zuwendungen von Bund (Sozialgesetzbücher) und Freistaat Sachsen (Finanzausgleichsgesetz) stärker berücksichtigt wird und insbesondere die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch für einkommensschwache Menschen möglich bleibt.

Es muss uns gelingen, durch gute Aus- und Weiterbildung möglichst allen Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben sowie die Unternehmensbedarfe und das Arbeitskräfteangebot aufeinander abzustimmen. Hierbei spielt die Arbeit der Fachkräfteallianz eine wichtige Rolle.

Landratskandidat der CDU: Stephan Meyer.
Landratskandidat der CDU: Stephan Meyer. © Martin Schneider

Sebastian Wippel (AfD)

Für Pflegekräfte müssen wir bessere Bedingungen schaffen, zum Beispiel durch die stärkere Förderung vorhandener Projekte, darunter Mehrgenerationen-Wohnprojekte. In der Altenpflege müssen wir mehr auf liebevolle Pflege in familiärer und nachbarschaftlicher Gemeinschaft setzen. Eine "Seniorenleitstelle" soll in praktischen Fragen beraten. Als Landrat würde ich mich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht stellen, um so den Pflegemangel abzuwenden.

Um die Ausgrenzung Sozialschwacher zu bekämpfen, müssen wir bereits die Schulsozialarbeit unterstützen, um Kindern, die es brauchen, unkompliziert frühzeitig Hilfe zu leisten. Für das Berufsleben gilt: Arbeit statt Beschäftigungstherapie! Arbeitslosen und Unterbeschäftigten müssen wir mit Weiterbildungen helfen, die sich am Bedarf des Arbeitsmarktes und an den Bedürfnissen der Arbeitssuchenden orientieren.

Die soziale Situation im Kreis muss stärkere Berücksichtigung im Freistaat finden, Zuschüsse sind zwingend notwendig. Die derzeitige Lage deckt nicht einmal die verpflichtenden Kosten. Neue Aufgaben, die die Bundesregierung den Landkreisen stellt, finanziert sie nicht vollständig. Deshalb müssen wir die Klage des Landkreises gegen den Freistaat zum Erfolg führen.

Der hohe Anteil an einkommensschwachen Einwohnern hängt damit zusammen, dass ländliche Regionen wie der Kreis Görlitz hoffnungslos hintenan gestellt wurden – auf wirtschaftlicher und infrastruktureller Ebene. Um die Attraktivität unserer Region zu erhöhen, brauchen wir eine eigene Sonderwirtschaftszone.

Landratskandidat der AfD: Sebastian Wippel
Landratskandidat der AfD: Sebastian Wippel © SZ-Archiv / Nikolai Schmidt

Kristin Schütz (FDP)

Im Pflegebereich kommen ganz neue Anforderungen auf uns zu, wenn ich mir die Altersstruktur betrachte. Hier gilt es für die ältere Generation, Eigenvorsorge zu treffen. Das heißt, sich selbst körperlich und geistig fit zu halten und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, also das, was viele jetzt schon tun. Die private Vorsorge, auch mit kleinen monatlichen Beträgen, ist nötig.

Für neues Pflegepersonal müssen wir uns selbst als die weltoffene Region präsentieren, die wir sind. Ein 'Sprachakzent' beim Pflegepersonal wird künftig dazugehören. Der Ausbildungsverbund für Pflegekräfte im Landkreis hat sich als vorteilhaft herausgestellt und muss erhalten werden.

Wir haben eine besondere Sozial- und Altersstruktur. Mein Ziel ist, dass sich dies im Finanzausgleich mit dem Freistaat widerspiegelt. Hier gilt es, mit der Klage des Landkreises unsere Ansprüche zu verdeutlichen.

In der Kinder- und Jugendarbeit gilt es, wieder auf Augenhöhe zu kommunizieren, Verwaltungsabläufe transparent und nachvollziehbar umzusetzen und sich vor Augen zu führen, dass politisch gewolltes nicht immer der gesellschaftlichen Realität entspricht. Familienbildung sollte nicht nur in Kitas, sondern auch in Schulen, dort wo zukünftige Eltern sind, stattfinden. Es ist wissenschaftlich zu ermitteln, inwieweit die Strukturschwäche der Region sich in familiären Problemen widerspiegelt. Ich möchte eigenverantwortliches Handeln von Eltern stärken. Im Jugendschutz setze ich auf die Förderung der ämterübergreifenden Zusammenarbeit. Das Personal des Jugendamtes muss strukturell unterstützt werden.

Landratskandidatin der FDP: Kristin Schütz
Landratskandidatin der FDP: Kristin Schütz © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Sylvio Arndt (unabhängiger Kandidat)

Aus meinen Gesprächen mit Pflegepersonal und Unternehmern im Pflegebereich weiß ich, dass diese vor allem eins wollen: sich um die von ihnen betreuten Menschen kümmern und ihre Arbeit vernünftig vergütet bekommen. Alles, was zusätzlich an Verwaltungsarbeit anfällt, hält sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Deshalb muss jeder Gesetzgeber und jede Behörde genauestens darüber nachdenken, in welchem Verhältnis Aufwand und Nutzen für alle Seiten stehen, bevor wir diesen Menschen ihren schweren Job noch schwerer machen. Als Landrat würde ich mich dafür einsetzen, genau diese Denkweise bei meinen Mitarbeitern zu verankern.

Mit der Änderung der Vorschriften zu den Finanzbeziehungen zwischen dem Freistaat Sachsen und seinen Kommunen fehlen dem Landkreis Görlitz zusätzlich 9,1 Millionen Euro im Haushalt. Wie diese Gesetzesänderung beschlossen werden konnte, obwohl AfD und CDU dagegen sind und die nun notwendige Klage unterstützen, erschließt sich mir nicht. Aber so bleibt leider nur weiter die Klage.

In einer sozialen Gesellschaft geben Menschen einen Teil des erwirtschafteten Ertrags an andere ab, welche selbst nicht in der Lage sind, ausreichend für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Ich glaube, dass die Menschen gern geben. Also sehe ich meine Aufgabe darin, Verbesserungspotenziale im Bereich der Personalführung, der Aufgabenverteilung und der Erfolgskontrolle innerhalb des Landratsamts so zu nutzen, dass die Mittel im Haushalt zur Verfügung stehen und ein Maximum an Mitteln des Landes und des Bundes eingefordert wird.

Tritt als unabhängiger Kandidat zur Landratswahl an: Sylvio Arndt.
Tritt als unabhängiger Kandidat zur Landratswahl an: Sylvio Arndt. © André Schulze