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Der kleine Käfer, der Großbaustellen stoppt

In den linkselbischen Tälern zwischen Dresden und Meißen liegt ein Naturparadies nicht nur für Eremiten. Teil 3 unserer Natur-Serie.

Von Karin Großmann
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Der Eremit, auch Juchtenkäfer genannt, spielt unter den 4.500 Käferarten in Sachsen eine besondere Rolle. Er wird von der EU geschützt.
Der Eremit, auch Juchtenkäfer genannt, spielt unter den 4.500 Käferarten in Sachsen eine besondere Rolle. Er wird von der EU geschützt. © kairospress

Wer an alten Bäumen schnuppert, hat mehr vom Leben. Denn so lässt sich ein Eremit entdecken. Er riecht fruchtig nach Aprikose. Eremitinnen gefällt das. Sie selbst riechen nicht. Wahrscheinlich werden sie trotzdem geliebt. Aber was weiß man schon von diesen seltsamen Wesen, die auch als Juchtenkäfer bekannt sind und allein durch ihre Existenz wichtige Bauprojekte verhindern können? Der Stuttgarter Bahnhof zum Beispiel wird wegen dieses Käfers um zwanzig Millionen Euro teurer.

Constappel will keinen Bahnhof bauen. Das ist eine kluge Entscheidung. Denn oberhalb des kleinen Ortes liegt das Eremitenparadies – eine Rarität in Sachsen, Deutschland, Europa. Deshalb fühlt sich die Europäische Gemeinschaft für diesen Käfer verantwortlich. Als Einziger steht er neben dem Fischotter, vier Fledermaus- und zwei Schmetterlingsarten in einer Schutzliste. Sie gilt für das gesamte Terrain der linkselbischen Täler zwischen Dresden und Meißen, genauer: zwischen Ockerwitz und Neudörfchen. Es ist eines von 270 Flora-Fauna-Habitat-Gebieten in Sachsen. Wir stellen einige in dieser Serie vor.

Der FFH-Status soll nicht nur bestimmte Tiere und Pflanzen schützen, sondern vor allem ihr Wohngebiet. Die Organisatoren schwärmen von einem Netz, das die geschützten Lebensräume irgendwann länderübergreifend verbinden soll. Ein Netz hat naturgemäß Löcher. Auch das linkselbische Terrain von knapp 900 Hektar zeigt leider etliche Lücken. Sie trennen sogar den beliebten Zschonergrund in zwei Teile.

Die Spanische Flagge hat ihr bevorzugtes Revier in den linkselbischen Tälern: ein auffallend schöner Schmetterling.
Die Spanische Flagge hat ihr bevorzugtes Revier in den linkselbischen Tälern: ein auffallend schöner Schmetterling. © kairospress

Der besondere Charme liegt in der Abwechslung. Wo sonst gibt es sonnige Höhen mit Weinstöcken und tiefe, dunkle, feuchte Schluchten so dicht beieinander, steile Hänge, trockene Eichenmischwälder und weite Wiesen? Einundzwanzigmal Bachgemurmel. Der Bach bei Constappel heißt Wilde Sau. Der Name kommt nicht vom Schwein, sondern bedeutet im Slawischen etwas wie Sturzbach. Er murmelt trotzdem.

Das Paradies ist eine Wiese mit knorrigen Obstbäumen. „Je älter und brüchiger, desto besser“, sagt Jörg Lorenz. Wenn sich einer mit Käfern im Allgemeinen und Eremiten im Speziellen auskennt, ist er das. Ein agiler Mittfünfziger, Graubart, Forstwissenschaftler. Vorsichtig steigt er durchs hohe Gras, würdigt nebenbei auf der Wilden Möhre ein paar gelbe krabbelnde Millimeter, „da, ein Schwefelkäfer“, und macht halt an einem Kirschbaum. Ein relativ plumpes, rundes, schwarz glänzendes Tier balanciert über die Borke. Eremiten zu sehen, ist ein Glücksfall. Jörg Lorenz beschreibt sie als flugfaule Stubenhocker, die in tiefen Baumhöhlen im Mulm leben, einem lockeren Substrat aus zersetztem Holz. Dort ereignet sich die immer wieder staunenswerte Verwandlung von Ei in Larve in Puppe in Käfer. Das kann bis zu vier Jahre dauern. Das Eremitenmännchen lebt kaum vier Wochen, das Weibchen etwa drei Monate. Doch nicht das fragwürdige Verhältnis von Aufwand und Nutzen ist das Problem.

Jörg Lorenz erforscht die Käferfauna in Sachsen. Leidenschaftlich kämpft er für den Erhalt alter Bäume.
Jörg Lorenz erforscht die Käferfauna in Sachsen. Leidenschaftlich kämpft er für den Erhalt alter Bäume. © kairospress

„Mulmhöhlen“, sagt Lorenz, „gibt es nur in ziemlich alten, dicken Bäumen – und gerade die fallen oft der Säge zum Opfer.“ Er schimpft auf den „Verkehrssicherheitswahn“ und die „irrationale Wahrnehmung von Alltagsrisiken“, wenn jeder trockene Ast gleich Panik auslöst.

Doch wertvolle Brutbäume, sagt er, werden auch aus anderen Gründen gefällt: Wenn Naturschutzbehörden vor bauwilligen Kommunen einknicken oder Forst- und Agrarbetriebe nur nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit agieren. „So verschwinden die Lebensräume der Eremiten immer mehr. Da hilft nur: nachpflanzen, nachpflanzen, nachpflanzen.“ Bis aus dem Stämmchen ein Stamm wird mit ausreichend Höhlenplatz und Mulm, geht viel Zeit über das Saubachtal hin. Alle sechs Jahre soll geprüft werden, wie es den Eremiten dort geht. Das wünschen die FFH-Richtlinien. Jörg Lorenz wünscht sich die systematische Kartierung aller Käfer im Revier oder zumindest der Laufkäfer. Und da ist vom Dickstieligen Spaltzahnmoos noch gar nicht die Rede oder von der Mopsfledermaus, die angeblich nachts vorbeijagt, in diesem oder jenem Tal nebenan. Amselgrund, Erlichtgrund, Tännichtgrund, Wolfsschlucht, Rehbocktal, Prinzbachtal – dann kommt schon der nächste Waldhügel. „Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss“, schreibt der Dichter Heinz Czechowski.

Im Eichhörnchengrund in Gauernitz zeigen Hausbriefkästen das Bild eines munteren braunen Eichkaters. Eine Magnolie im Vorgarten holt den Blütenverlust des Frühjahrs nach. Palmlilien feiern mit weißen Glockenbüscheln den Klimawandel. Wo die Straße in einen Waldweg mündet, stößt man bald auf die Schulze-Mühle, die kleinste begehbare und noch funktionstüchtige Wassermühle. Doch Flora-Fauna-Habitat schert sich nicht um architektonisches Kleinod. Ja, wenn es Hainsimse wäre oder Labkraut … Der feuchtkühle, schattige Weg steigt an bis zu einer Gabelung: links Richtung Röhrsdorf, rechts durch den Schindergraben nach Pegenau. Das Springkraut springt von selbst bergauf zum ehemaligen Rittergut, wo dreimal die Woche Brot gebacken und verkauft wird.

An späten Sommertagen finden sich Falter und Distel zu einem stimmungsvollen Stillleben am Wiesenrand des Saubachtals zusammen.
An späten Sommertagen finden sich Falter und Distel zu einem stimmungsvollen Stillleben am Wiesenrand des Saubachtals zusammen. © kairospress

Eine echte Mühle mit Brotbäckerei steht im Zschonergrund, Wallfahrtsort vieler Dresdner. Ramona Hodam wandert oft vorbei. Das Schild am Ärmel weist sie als Naturschützerin im Ehrenamt aus. „Ich will nicht nur zahlendes Mitglied sein beim NABU und beim BUND, sondern selber aktiv werden. Ich will nicht tatenlos zusehen, wie immer mehr Natur zerstört wird und verloren geht.“ Sie kümmert sich um den Zschonergrund. Wie in einer Gemäldegalerie macht sie aufmerksam auf die Schätze. Im Eisteich laichen Grasfrosch und Erdkröte. Am Wiesenhang wachsen Tausendgüldenkraut und Skabiosen-Flockenblume.

An einer Abbruchkante im Gras leben Wildbienen. Als eine der ersten Blüten im Jahr erscheint das Leberblümchen in einer Felsspalte. Als einer der Letzten blüht der Bunte Hohlzahn am Wegrand, Futter für Hummeln. Vier Bussarde kreischen am Himmel. Ihr Fernglas hat Ramona Hodam immer dabei und den Fotoapparat. Neulich erwischte sie die Spanische Flagge, auch Russischer Bär genannt. Der Schmetterling sieht weder so noch so aus. Mit seinen schwarzweißen Vorderflügeln und knallroten Hinterflügeln gehört er neben dem Dunklen Wiesenknopf-Ameisenbläuling zu den geschützten Arten im FFH-Gebiet „Linkselbische Täler“. Wie schön, wenn etwas einfach bloß Waldkauz heißt. Ramona Hodam erzählt, wie sie zwei Jungvögel in einer Baumhöhle entdeckte. Die Kirschbaumkrüppel auf der Streuobstwiese dürfen bleiben, sagt sie: „Totholz ist nicht tot!“

Für den Käferspezialisten Jörg Lorenz ist der morsche Stamm einer Hainbuche ein „Hotspot der Artenvielfalt“. Vorsichtig lüpft er ein Stück Rinde, zeigt auf Käfergänge und Fraßspuren. Lorenz freut sich über eine Spinnenameise und hält ein Getreidehähnchen ans Ohr. Manchmal zirpt es. Jetzt grade nicht. Rund ums Saubachtal hat er fast 500 Käferarten nachgewiesen, darunter 50 von der Roten Liste und 30 gesetzlich besonders geschützte. „In den Wäldern hier schlummert bestimmt noch die eine oder andere unentdeckte Käfer-Besonderheit.“ Man muss sie bloß finden.

Die linkselbischen Täler bieten viele Wanderwege, zum Beispiel:

  • Von Gauernitz durch den Eichhörnchengrund nach Röhrsdorf, von dort ins Saubachtal und über Constappel zurück nach Gauernitz, etwa 12 Kilometer.
  • Von Dresden-Briesnitz durch den Zschonergrund bis zur Zschoner Mühle und über Merbitz an der Weinbergmauer zurück. Oder von der Mühle weiter bis Pennrich.
  • Der Dresdner Wander- und Bergsteigerverein veranstaltet am 16. Oktober die 21. Linkselbische Tälertour über 10 bis 43 Kilometer mit Start in Dresden-Cossebaude.

Bisher in dieser Serie erschienen sind folgende Texte: