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Der Dynamo-Fan, der mitten im Veilchen-Land lebt

Die Mitgliederzahlen bei Dynamo Dresden steigen und steigen, inzwischen sind es mehr als 27.000. Und einige Anhänger wohnen an Orten, wo man sie kaum vermutet – so wie Wolfgang Sehm in der Nähe von Aue. Auch er fiebert dem Derby entgegen.

Von Daniel Klein
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Wolfgang Sehm ist seit 50 Jahren Dynamo-Fan – und lebt nur wenige Kilometer von Aue entfernt.
Wolfgang Sehm ist seit 50 Jahren Dynamo-Fan – und lebt nur wenige Kilometer von Aue entfernt. © privat

Thalheim. Die Mehrheit repräsentiert er nicht und nicht mal den Durchschnitt. Er fällt aus dem Rahmen – und das in vielerlei Hinsicht. Er ist älter, trägt einen untypischen Vornamen, vor allem aber wohnt Wolfgang Sehm in einer Region, wo man Mitglieder von Dynamo Dresden eher nicht vermutet – in Thalheim, „der Perle des Erzgebirges“, wie er mit Nachdruck betont. Das liegt rund 20 Kilometer von Aue entfernt, wo an diesem Sonntag (18.2.) sein Verein zum Sachsen-Derby antritt.

Sehm ist einer von inzwischen mehr als 27.000 Dynamo-Mitgliedern. Ende vergangenen Jahres wurde die Marke geknackt, aus diesem Anlass kramte der Fußball-Drittligist in den Statistiken und fand heraus, dass das Durchschnittsmitglied männlich ist, vor 39,6 Jahren geboren wurde, Thomas mit Vornamen heißt und in Dresden lebt. Bis auf das Geschlecht passt da bei Sehm nichts.

Eine schwarz-gelbe Fahne im Garten und Wimpel im Auto

Vor allem sein Wohnort ist untypisch, in Thalheim ist man Fan des FC Erzgebirge Aue – aus Überzeugung und mit Leidenschaft. Dass Sehm dort einer Minderheit angehört, bekommt der Rentner immer mal wieder zu spüren, wenn Freunde und Nachbarn frotzeln. In dem 6.000 Einwohner zählenden Ort ist der ehemalige Polizist allseits bekannt, er ist dort geboren und aufgewachsen, war bis auf die anderthalb Jahre bei der Armee nie weg. Ein Unikat also.

Und dem sieht man schon mal nach, wenn er auf seinem Grundstück mitten im Veilchen-Land eine schwarz-gelbe Fahne hisst oder im Auto einen Wimpel und einen Duftbaum in den Vereinsfarben spazieren fährt. „Da kommt mal ein Spruch, aber nie etwas Bösartiges, wovor ich Angst haben müsste“, sagt er.

Das Grundstück hat Sehm nicht mehr, vor drei Jahren musste er sich einer schweren Operation unterziehen, seitdem ist die Bewegungsfreiheit ein wenig eingeschränkt. Deshalb fährt er auch nur noch etwa viermal im Jahr zusammen mit seiner Frau nach Dresden.

Das letzte Heimspiel der Saison ist dabei Pflicht, genauso wie die Mitgliederversammlung. „Wir verbinden das immer mit einem verlängerten Wochenende, suchen uns eine Ferienwohnung. Wenn ich bei der Dynamo-Versammlung bin, geht meine Frau mit ihrer Freundin spazieren“, erzählt er. Da sind die Interessen doch verschieden.

Anfang der 1970er-Jahre saß Sehm noch ab und an bei den Heimspielen von Wismut Aue im Otto-Grotewohl-Stadion und sah dort den berühmten Dresdner Kreisel mit Spielern wie Hans-Jürgen Dörner, Eduard Geyer, Siegmar Wätzlich, Reinhard Häfner, Gert Heidler, Hartmut Schade und Dieter Riedel. Seitdem ist er Fan, Mitglied wurde er jedoch erst 2015. Kürzlich ist sein 39-jähriger Sohn eingetreten, die fußballerische Vorliebe hat er also vererbt.

Es werden immer mehr: In den vergangenen 20 Jahren hat sich Dynamos Mitgliederzahl mehr als verzehnfacht.
Es werden immer mehr: In den vergangenen 20 Jahren hat sich Dynamos Mitgliederzahl mehr als verzehnfacht. © Grafik: SZ/Gernot Grundwald

Schaden nahm die nicht mal, als Dynamo zwischenzeitlich viertklassig spielte und Schlagzeilen vor allem durch Skandale machte. „Wahre Liebe kennt keine Liga“, findet Sehm. „Man muss auch mal durch tiefe Täler gehen.“ Selbst wenn die schmerzhaft sind wie der Abstieg 2022 in der Relegation gegen den 1. FC Kaiserslautern. „Wir saßen noch eine Stunde nach dem Abpfiff im Stadion, weil wir es nicht fassen konnten. Auch am Auto blieben wir noch eine Weile stehen – es war ausgerechnet mein 72. Geburtstag“, erzählt er.

Viel lieber erinnert er sich jedoch an die Sternstunden wie den Sieg im DFB-Pokal gegen RB Leipzig 2016. Ein Jahr zuvor war er im Stadion, als der Erfurter Carsten Kammlott in der Luft liegend mit der Hacke das Tor des Jahres erzielte. Auch das bleibt unvergessen.

Um alle Dynamo-Spiele live im TV sehen zu können, hat er sich ein Bezahl-Abo geleistet. Vor der Übertragung zieht er sich das Shirt mit dem Aufdruck „12. Mann“ an und wickelt sich den Fanschal um den Hals. „Bei einem Sieg kommt der Schal nachts auch mit ins Bett“, verrät er.

Seine zweite Liebe neben Dynamo gilt dem SV Tanne Thalheim, wo er ehrenamtlich als Ordner aushalf. In der Landesliga stand er an der Seitenlinie, als Dynamos zweite Mannschaft dort spielte – mit den späteren Bayern-Profis Jens Jeremies und Alexander Zickler.

Von einem Mitglied der Alten Herren von Tanne Thalheim bekam er als Dankeschön ein selbst geschnitztes Räuchermännchen in Dynamo-Optik geschenkt, es ist der jüngste Neuzugang in der Sammlung. Vor fünf, sechs Jahren, so genau weiß er das nicht mehr, rief kurz vor Weihnachten Ralf Minge bei ihm an. Der damalige Sportchef wollte sich bei Mitgliedern, die außerhalb des Dynamolandes wohnen, für deren Treue bedanken.

Nur 15 Vereine haben in Deutschland mehr Mitglieder als Dynamo

Die sind nicht nur treu, es werden vor allem immer mehr. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Mitgliederzahl des Vereins mehr als verzehnfacht – von 2.480 auf nun 27.073. Damit liegt Dynamo im deutschlandweiten Vergleich auf Platz 16, noch vor neun Erst- und zwölf Zweitligisten. Zum Vergleich: Sonntag-Gegner Erzgebirge Aue hat 9.124 Mitglieder. Die jährlichen Beiträge sind inzwischen auch zum Wirtschaftsfaktor geworden, rund 1,7 Millionen Euro fließen dadurch in die Vereinskasse der Schwarz-Gelben.

Im Osten Deutschlands ist lediglich Union Berlin (64.466 Mitglieder) größer. Nach einer Erhebung von 2021 leben 99 Prozent der Dynamo-Mitglieder in Deutschland, 73 Prozent in Sachsen und 29 Prozent in Dresden. Nur ein Bruchteil von ihnen kann am Sonntag zum Auswärtsspiel nach Aue reisen, der Gästeblock dort ist längst ausverkauft.

Wolfgang Sehm ist nicht dabei, auch wenn es bei ihm gleich um die Ecke liegt. „Zwei Stunden Stehen, das ist mir inzwischen ein bisschen zu lang“, sagt er. Er fiebert wieder vor dem Fernseher mit – und hofft, dass er danach den Schal wieder mit ins Bett nehmen kann.