Dresden. Vereinzelte Böller und leuchtende Pyros verheißen an diesem frühen Sonntagnachmittag eher gute Stimmung als Randale. Zuschauer dürfen nicht ins Rudolf-Harbig-Stadion zum Spiel gegen Türkgücü München.
Aber gegenüber im Großen Garten feiern sie den Aufstieg von Dynamo in die 2. Liga. Familien gleich neben Hardcore-Fans. Auch solchen, die im Jargon der Polizei als „Gewa Sport“ bezeichnet werden: Gewalttäter, auffällig vor allem bei Fußballspielen.
Bier fließt in Strömen, Tausende steigern sich in einen Fußballrausch. Immer mehr Pyrotechnik knallt. Die Lage eskaliert, nach stundenlangen Krawallen bilanziert die Polizei am Abend: Mehrere Dutzend Fans und 185 Polizisten sind verletzt.
Torsten Berger, der wie alle Polizisten in diesem Text eigentlich anders heißt, ist einer von ihnen. Ein Foto zeigt, wie eine Wunde in seinem Schienbein klafft, Blut über den Unterschenkel rinnt. Eine volle Bierflasche ist am Bein des 27-Jährigen zerschellt, Scherben haben durch den derben Drillich-Stoff geschnitten. Kollegen in Schutzmontur tragen ihn eilig aus der Schusslinie, andere sichern sie ab.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so heftig wird“, sagt Berger zwei Wochen später. Er ist Zugriffsbeamter einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit und lässt mit vier Kollegen den Aufstiegssonntag noch einmal Revue passieren.
Völlig unerwarteter Gewaltausbruch
Der Einsatz, der eine zuvor unbekannte Eskalationsstufe erreicht hat, könnte in keinem größeren Kontrast stehen zu dem nüchtern-grauen Konferenzraum eines schmucklosen Blocks auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei in Leipzig, in dem die Polizisten von ihrem Einsatz am 16. Mai erzählen.
„Wir hatten eigentlich keine große Erwartungshaltung, was Gewalt anging. Die meisten gingen davon aus, dass Dynamo aufsteigt, was soll da passieren“, sagt Peter Schmidt. Der 22-jährige Bereitschaftspolizist hat selbst Sympathie für Dynamo. „Wir wissen aber auch, dass Dynamo eine sehr hohe Zahl gewaltbereiter Fans hat.“
Schmidt trug einen blauen Oberarm, schmerzende Knie und Hände davon, ausgelöst durch Flaschentreffer. „Das Adrenalin hält dich die ganze Zeit oben, aber spätestens auf der Heimfahrt beginnst du es zu merken. Am nächsten Tag spürst du alles.“
Georg Hartmann, Halbgruppenführer, gehört mit 29 Jahren zu den Erfahreneren. „Es war klar, dass ein paar feiern wollten, die Situation war abhängig vom Spielverlauf, also haben wir den Fans erst mal freie Hand gelassen, und alles war entspannt.“
Die fünf gehören zu der Einheit, die zunächst fast unbeachtet an der Grenze zwischen Großem Garten und der Kreuzung vor dem Stadion ausharrt, ohne angelegten Helm und Handschuhe. Alles war anfangs friedlich, keine Spur von Eskalation. Die Einheit erlebt später die brutalsten Angriffe mit. Der Platz ist ein beliebter Treffpunkt. Torwirtschaft und Wachstube schenken Fans auch in Nicht-Corona-Zeiten Bier aus. Diesmal haben viele ihre Flaschen mitgebracht.
Corona-Regeln haben niemanden interessiert
Aus Polizei-Lautsprechern tönen Ansagen, die Fans mögen „bitte“ Abstände und Maskenpflicht beachten. „Die CoronaRegeln haben für die Leute dort keine Rolle gespielt, obwohl am Tag vorher wegen der Corona-Schutzverordnung eine Demo verboten worden war“, sagt Olaf Böhme, 46 Jahre alt und Hundertschaftsführer. Aber Vereine wie Dynamo seien für viele eine Ersatzreligion, die über allem steht. Auch über dem Gesetz.
Was an jenem Sonntag passierte, sei ein einziger großer Corona-Verstoß gewesen. Trotzdem habe man die Fans gewähren lassen, es bei Videoaufnahmen jener belassen, die verbotene Böller und Pyrotechnik zündeten.
Nach jedem Tor seien mehr Böller entflammt. Aufforderungen per Lautsprecher, das zu unterlassen, verhallen ungehört, erinnert sich Georg Hartmann. „Familienväter haben Kinderwagen durch die Pyrowolken geschoben, das war krass. Im Busch an der Torwirtschaft sind viele pinkeln gegangen, auch kleine Kinder, aber andere haben in den Busch ihre Pyros geschmissen.“
Nach dem 3:0 in der 62. Spielminute habe sich die Stimmung weiter aufgeheizt. Ab der 70. Minute richtet sie sich gegen die Polizei. Bengalos flammen massenweise auf, gelbe Rauchschwaden verdecken die Sicht. „Kommt mit, kommt mit“, habe es geschallt.
Helm und Brandschutzhaube gegen Bengalos
Rund 1.000 Leute, viele mit roten Leuchtfackeln, hätten sich plötzlich und gezielt in Bewegung gesetzt, vorbei an der Torwirtschaft in Richtung des alten Dynamo-Trainingsgeländes im Großen Garten, dann Richtung Stadion. Mit Abstand begleiten rund 60 Polizisten den Zug. „ACAB – wir vergessen nie“, „Alle Bullen sind Schweine“. „Ganz Dresden hasst die Polizei“ sollen die Fans im Chor gebrüllt haben.
Böller fliegen jetzt in Richtung der Gehassten. Die setzen Helm inklusive Brandschutzhaube auf. „Wir wollen gern unsere Gesichter behalten“, sagt Hartmann. Einer aus der Masse sei einem Polizisten gezielt in den Rücken gesprungen. „Das war ein bisschen der zündende Funke für die Angriffe.“
Flaschen und Feuerwerkskörper fliegen auf die Fahrzeugkette der Polizei vor dem Stadion. Die Angreifer verlagern sich wieder in den Großen Garten. Dort stehen 60 Polizisten einem Wall von gut 1.000 Menschen gegenüber. Teils schwarz gekleidet und vermummt, die meisten in Schwarz-Gelb. „Das war klassisches Dynamoklientel. Wer behauptet, das waren alles keine Fans oder keine Dresdner, von sonstwo angereiste Gewaltmacher – das ist absoluter Quatsch.“
Zum Spiel angereist war auch eine 170 Mann starke Gruppe aus der Region Bautzen. Dort überschneiden sich die Szenen von hartgesottenen Dynamofans, Nazis und Kampfsportlern, so Experten.
Baumwipfel und Äste halten einen Teil der Geschosse ab. „Aber es ist mehr als genug durchgegangen“, sagt Hartmann. Dann kommen Angriffe aus dem Buschwerk von links in die Flanke dazu, dichter Rauch behindert die Sicht. „Das waren nicht nur ein paar Einzelne, da war vom Jugendlichen bis zum 60-Jährigen alles dabei.“ Normale Fans, teilweise Familienväter hätten sich mit Hooligans solidarisiert.
Einen Rädelsführer machen die Polizisten nicht aus, aber die Angriffe erscheinen ihnen choreografiert. Ein Mann schleppt eine auffällige Silvester-Raketenbatterie heran. „Wir haben uns die ganze Zeit gewundert, warum der die auch nach dem 3:0 nicht einfach gezündet hat, wir dachten erst, der will einfach Feuerwerk machen“, sagt Hundertschaftsführer Böhme.
Während seine Leute angegriffen werden, zündet der Feuerwerksbesitzer seine Batterie – und kippt sie auf die Seite, in Richtung der Polizisten. Derweil kommen die Flaschenwerfer teils bis auf sechs Meter heran.
Die Polizisten hätten nur eine Möglichkeit gehabt: die Flucht nach vorn, „um nicht zu viele verletzte Beamte zu verlieren“, sagt Hartmann. „Ich will meine Gruppe heil nach Hause bringen und niemanden anrufen müssen.“
Fast jeder Polizist habe eine Freundin oder Frau, viele haben Kinder. Seine eigene Frau gucke bei seinen Einsätzen immer auf Twitter, weil sie weiß, wie gefährlich es werden kann.
Gewaltpotenzial mit G20 in Hamburg gleichzusetzen
„Das Gewaltpotenzial bei diesem Einsatz vor dem Dynamostadion ist gleichzusetzen mit G20 in Hamburg, aber dort standen die Angreifer weiter weg und haben oft schlecht geworfen und nicht immer getroffen, hier kamen die Angriffe aus kurzer Distanz.“, sagt Hartmann. Eineinhalb Jahre Frust über den Verzicht auf Fußball hätten sich offenbar auf einmal entladen.
Während dieser halben Stunde, die sich die Flaschen- und Böllerwürfe hinziehen. trifft es auch Torsten Berger. „Als wir gegen die Front angerannt sind, haben sich die Angreifer erst mal zurückgezogen.“ Als seine Kollegen ihn wegbringen, habe er noch den Funk auf dem Ohr gehabt. „Du hörst, wie immer mehr Verletzte dazukommen, während du noch weggetragen wirst.“
Die Stadt Dresden ruft den Status „Massenanfall an Verletzten“ aus, um möglichst viele Krankenwagen heranschaffen zu können. „Eigentlich ist dieser Status für Katastrophen wie schwere Busunglücke gedacht.“ Für Berger endet der Einsatz im Krankenhaus, wo die Wunde genäht wird.
Thomas Probst ist 49, seit 20 Jahren Bereitschaftspolizist und war Teil der Einsatzführung. „So etwas hab ich in Zusammenhang mit Fußball noch nie erlebt, und ich war bei G20, bei Castor-Transporten und vielen anderen Fußballspielen dabei“, sagt er. „Das war krasser Dauerstress über fünf, sechs Stunden hinweg, auch als das Spiel längst aus war.“ 15 Stunden dauerte der Einsatz schließlich.
Ein Kollege habe ein Knalltrauma erlitten, weil ein illegaler Böller in Hüfthöhe explodierte. Er könne bis heute nicht wieder richtig hören. Bei jedem Fußballspiel gebe es eine gewaltbereite Masse, „aber diese hatten Unterstützung durch Leute, die das sonst nicht machen würden“. Angestachelt durch Alkohol und die aggressive Stimmung.
Beleidigungen und Pflastersteine auf den Kopf
„Ich habe meine Verletzungen erst nach dem Einsatz gespürt, obwohl ich Flaschen und Pflastersteine auf den Kopf bekommen habe“, sagt Bereitschaftspolizist Probst. Dann ging es mit der Halswirbelsäule los. „Am Tag danach gucke ich meinen Helm an und sehe zwei massive Einschläge – da war mir klar, wo die Schmerzen herkommen.“
Er zeigt ein Foto. Mutmaßlich schlugen die Pflastersteine mit der spitzen Ecke ein, der kaputte Helm ist inzwischen Teil der Ermittlungen. „Ich frage mich, wie das ausgegangen wäre, wenn ich den Helm nicht getragen hätte.“
Auch mit Farbbomben, Kot- und Urinbeuteln sei er schon beworfen worden. „Viele Menschen kennen keine moralische Schwelle mehr“, sagt Probst. „Eine Grenze ist erreicht, wenn ein Kollege am Boden liegt, und da kommen die immer noch angerannt und treten und prügeln auf den ein.“ Als Polizist beobachte er, wie die Moral in einigen Bevölkerungskreisen verfalle. Seit der Pandemie noch mehr.
Von Beleidigungen und Verachtung bei diesem Dynamo-Einsatz können alle Polizisten erzählen. „Da steht einer vor dir und sagt: Ich könnte dein Vater sein, schämst du dich nicht“, sagt Hartmann. „Ich hab mir nur gedacht, einen Vater, der bei solchen Krawallen mitmacht, will ich nicht.“ Er stockt kurz.
Es mache ihn fassungslos, wenn Menschen ihre Familie, ihre Kinder in Gefahr bringen, weil sie stehen bleiben, wenn eines der letzten Mittel zum Einsatz kommt, der Wasserwerfer. Wenn Polizisten losrennen, um Steinewerfer dingfest zu machen.
Normale Bürger behindern Festnahmen
Von den nach Angaben des städtischen Rettungsdienstes 44 verletzten Fans dürften viele von Flaschen getroffen worden sein, die eigentlich der Polizei galten.
Wann immer sie Straftäter abgeführt hätten, seien sie von vermeintlich normalen Bürgern angepöbelt worden: Sie würden mal wieder nur Unschuldige festnehmen, alles ohne Kenntnis der Situation. Da sei etwa dieser Rollstuhlfahrer gewesen, dessen Kumpel ihn in dem Moment auf die Straße schob, als Hartmanns Truppe einen Steinewerfer schnappen wollte.
Von Polizeigewalt war hasserfüllt die Rede. Hartmann sagt: „Wir haben niemanden weggeknüppelt, sondern nur versucht, aus Selbstschutz die Angreifer zurückzudrängen.“ Als Polizist muss er neutral sein, aber etwas platzt doch aus ihm heraus: „Wir reden hier von Menschen in Uniform, und ringsum hörst du die ganze Zeit nur, was wir für Schweine sind. In was für einer Welt leben die?“
In anderen Ländern gehe die Polizei in solchen Situationen schnell mit Gummigeschossen vor. „Dass es
hier so rechtsstaatlich zugeht, nutzen diese Krawallmacher einfach aus, aber
ich stehe zu unserer Art Rechtsstaat“, sagt Hartmann.
Sein Hundertschaftsführer Olaf Böhme sagt: „Die haben am Aufstiegssonntag eine ganze Brauerei über uns abgekippt, wenn man die Scherben in Pfandgeld umrechnet, einfach unglaublich.“
Peter Schmidt sagt, er sei von „ganz normalen Leuten“ behindert worden, als er Verletzte in Sicherheit brachte. „Da sollte der Verstand einsetzen, stattdessen erleben wir tiefe Befriedigung darüber, dass es einen Kollegen erwischt hat.“
Der junge Beamte mit Herz für Dynamo hat nach den Krawallen mit Fans auf der Straße gesprochen. „Die haben sich geschämt für das, was passiert ist. Die Gewalt hat den schönen Erfolg sofort belastet.“
Torsten Berger kam erst, nachdem seine Wunde im Krankenhaus genäht worden war, dazu, die Erlebnisse zu reflektieren. „Da hilft nur drüber reden. Aber du kannst nur mit Leuten drüber sprechen, die das verstehen.“ Meist sind das seine Kollegen. Die anderen nicken. Kaum jemand, der nicht bei der Polizei ist, könne nachvollziehen, was solche Einsätze für die Frauen und Männer in Uniform bedeuten.
Georg Hartmann erzählt, er habe schon oft brenzlige Situationen erlebt. „Du verlässt dich auf deine Ausbildung, deine Ausrüstung und deine Kollegen, vertraust ihnen, hast Respekt vor der Situation, aber keine Angst, sonst kannst du nicht agieren.“ Angst vor kommenden Einsätzen hätten sie dennoch nicht.
Olaf Böhme, der Hundertschaftsführer, stellt klar: „Solange wir uns aufeinander verlassen können. Ich gehe ja nicht in eine Festnahmehundertschaft und erschrecke dann, wenn etwas passiert.“