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Notruf aus Sachsens Tierheimen: zu viele Katzen und Hunde, zu hohe Kosten

Immer mehr Menschen wollen ihre Tiere loswerden. Die ersten Heime erlassen Aufnahmestopps. Doch fehlender Platz ist nicht das einzige Problem.

Von Susanne Plecher
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Herbie hat es gerade noch so ins Tierheim Chemnitz geschafft. Der kleine Kater ist einer der Letzten, die aufgenommen werden konnten.
Herbie hat es gerade noch so ins Tierheim Chemnitz geschafft. Der kleine Kater ist einer der Letzten, die aufgenommen werden konnten. © Andreas Seidel

Herbies kleines Gesicht passt fast durch das Gitter. Neugierig begutachtet der kleine, schmächtige Kater den Besuch. Kurz nach Beginn der sächsischen Sommerferien sind er und seine Schwester gefunden und ins Chemnitzer Tierheim gebracht worden. Die beiden hatten Glück: Denn inzwischen gibt es dort so viele Katzen, dass keine weiteren mehr aufgenommen werden können.

„Seit die Ferien losgegangen sind, haben wir jede Menge Tiere bekommen“, sagt Tierheimchef Jens von Lienen. „Für mich fühlt sich das so an, als wollen die Leute in den Urlaub fahren, und ihr Tier stört sie auf einmal. Deshalb muss es weg.“ Erst in der vergangenen Woche stand ein Käfig mit zwei Kaninchen vor der Tür. Die Besitzer wollten noch nicht einmal klingeln. „Es waren ein Weibchen und ein Männchen, nicht kastriert. Sie können sich ja vorstellen, was da passiert ist.“

Der Aufnahmestopp für Katzen sei ein „absolutes Notrufsignal“, sagt von Lienen. Doch sein Haus ist bei Weitem kein Einzelfall. Deutschlandweit sei die Lage dramatisch, sagt Hester Pommerening von der Zentrale des Deutschen Tierschutzbundes in Bonn. „Sie spitzt sich zu, die Tierheime sind am Limit“, warnt sie.

Das bezieht sich vor allem erst einmal auf den Platz. Denn viele Tiere, die während der Lockdowns unüberlegt angeschafft wurden, sind ihren Haltern nun im Weg. Sie sind jetzt anderthalb bis zwei Jahre alt, erwachsen und nicht mehr so niedlich wie ein Welpe oder ein Kätzchen. Vielleicht sind sie größer und lebhafter als erhofft.

Für manche dürfte auch die Pflege anstrengender sein als vermutet. „Wir wissen oft nicht, warum die Menschen sie abgeben, haben aber die Theorie, dass die Besitzer zum Beispiel ihre ausgewachsenen Hunde nicht mehr händeln können und sie deshalb loswerden wollen“, sagt Dresdens Tierheimchef Florian Hanisch. Das wären häufig Tiere, denen keine Grenzen gesetzt wurden, die nicht erzogen sind. Sie lassen sich schwer vermitteln. Auch Hanisch kann keine Katzen mehr aufnehmen.

Andere Halter wüssten schlicht nicht, wohin mit Pfiffi oder Minka, wenn der lang ersehnte Flugurlaub ansteht. Hinzu kommen viele Haustiere von geflüchteten Ukrainern, die nicht in Erstunterkünfte mitgenommen werden durften. Menschen, die sich während der Lockdowns ganz bewusst ein Haustier angeschafft haben, fallen nun als potenzielle Abnehmer eines Tierheimbewohners weg. „Der Markt ist gesättigt, wir haben Probleme, die Tiere zu vermitteln“, sagt Hester Pommerening.

Die Mütter der süßen Kaninchenbabys sind ausgesetzt worden. Die Kleinen kamen im Chemnitzer Tierheim zur Welt.
Die Mütter der süßen Kaninchenbabys sind ausgesetzt worden. Die Kleinen kamen im Chemnitzer Tierheim zur Welt. © Andreas Seidel

Kosten für Tierarzt steigen enorm

Tierheime kommen nicht nur wegen der Platzkapazität an ihre Grenzen. Die Inflation macht das Futter teurer, der steigende Mindestlohn erhöht die Personalkosten, eine große Sorge sind die Energie- und Heizkosten. „Sie sind ein nicht zu kalkulierender Faktor. Aber wir müssen die Hundezwinger und die Katzenräume heizen. Noch schwieriger wird es bei den Exoten und Reptilien, die brauchen es konstant warm“, sagt Mike Ruckelshaus von der Tierschutzorganisation Tasso.

Durch eine Änderung der Tierärztegebührenordnung werden sich ab Oktober auch die Kosten für den Tierarzt deutlich erhöhen. So wird dann zum Beispiel eine allgemeine Untersuchung von Hund, Katze, Frettchen mit Beratung nicht mehr 8,98 Euro kosten wie noch 2017, sondern 23,62 Euro.

„Tierheime, die vorher schon Finanzsorgen hatten, geraten immer mehr unter Druck“, sagt Ruckelshaus. Er vermutet zudem, dass durch Inflation und Energiekrise Spenden ausbleiben. „Die Leute haben dann kein Geld mehr übrig. Während der Pandemie sind viele Spendenveranstaltungen abgesagt worden. Davon haben wir uns noch nicht erholt. Bei den meisten Tierheimen sind die Rücklagen aufgebraucht.“

Nur wenige der 850 Tierheime in Deutschland sind in kommunaler Hand, so wie in Dresden. Die meisten Heime werden von Vereinen betrieben, die abhängig sind von Spenden, Mitgliedschaften, Erbschaften oder sogenannten Fundtierverträgen, die mit Kommunen und Landkreisen abgeschlossen werden.

Die Gemeinden zahlen pro Jahr und Einwohner eine Pauschale an die Tierheime, die sich im Gegenzug verpflichten, herrenlose oder beschlagnahmte Tiere aufzunehmen. Zwischen 40 und 50 Cent würden die Kommunen durchschnittlich dafür zahlen. Um die Kosten zu decken, wäre schon vor Inflation und Energiekrise mindestens ein Euro nötig gewesen, sagt Ruckelshaus.

Die Zahlungen der Kommunen stünden oft in keiner Relation zu den tatsächlichen Kosten, schätzt auch der Tierschutzbund ein. „Bei uns ist die Pauschale schon seit vielen Jahren nicht mehr gestiegen“, berichtet Jens von Lienen vom Chemnitzer Tierheim. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht.“

Tessa Weise macht ein freiwilliges ökologisches Jahr im Chemnitzer Tierheim und kuschelt mit zwei Katzen, die am 14. und 18. Juli gefunden wurden.
Tessa Weise macht ein freiwilliges ökologisches Jahr im Chemnitzer Tierheim und kuschelt mit zwei Katzen, die am 14. und 18. Juli gefunden wurden. © Andreas Seidel

Als eine erste Hilfsmaßnahme für die in Not geratenen Tierheime sehen die Tierschützer daher ein Anheben dieser Fundtiersätze – mindestens um 40 Prozent. Ein zweiter wichtiger Schritt wäre, die Hundesteuer, die bislang nicht zweckgebunden an die Kommunen fließt, für den Tierschutz zu verwenden. 2021 zahlten allein in Sachsen Hundebesitzer knapp 13 Millionen Euro, deutschlandweit waren es mehr als 400 Millionen. „Die Kommunen müssen jetzt die Verantwortung übernehmen, damit die Tierheime überleben können“, mahnt Ruckelshaus.

Um die Überbelegung einzudämmen, wäre, drittens, eine Heimtierschutzverordnung nötig, die die Haltung, Kennzeichnung, Registrierung, Zucht und den Handel mit Heimtieren regelt. Der Tierschutzbund hatte schon 2017 einen Entwurf dafür erarbeitet. Er sieht unter anderem vor, dass Tierhalter ihre Eignung nachweisen müssen. „Vor allem darf es nicht mehr möglich sein, dass man sich mit zwei, drei Klicks im Internet ein Tier bestellt“, fordert Ruckelshaus. Der illegale Welpenhandel hatte während der Pandemie für schreckliche Bilder gesorgt.

Gibt es nicht bald Hilfe, so die Tierschützer unisono, würden wohl weitere Aufnahmestopps verhängt. Aber was passiert dann mit den Tieren? „Sind Tierheime voll, können sie keine Tiere mehr annehmen. Sie müssen erst einmal für die sorgen, die da sind“, sagt Hester Pommerenings. Immer häufiger würden die Vereine von Anfeindungen und unflätigen Beleidigungen berichten, wenn ein Halter sein plötzlich ungeliebtes Tier nicht mehr abgeben könne.

Sie sorgt sich, dass mehr Tiere ausgesetzt werden könnten. „Schon jetzt werden sie vermehrt regelrecht entsorgt.“ Pommerening schildert Fälle von an Mülleimern angebundenen Hunden und einer Katze, die in ihrer Transportbox hinter einem Altkleidercontainer gefunden wurde.

Fünf Millionen reichen nicht

So drückend ist die Situation, dass Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) sich am Montag im Tierheim im brandenburgischen Falkensee von Tierschutzpräsident Thomas Schröder über die generelle Lage informieren ließ. Im Gepäck: Fünf Millionen Euro, die er von der Ukrainehilfe für die Tierheime abgezwackt hat. Wichtige Geste, aber nicht ausreichend, sagen die Tierschutzorganisationen.

„Unsere Tierheime wissen nicht, wie sie die explodierenden Energie-, Futter- und Tierarztkosten sowie den künftigen Mindestlohn bezahlen sollen. Sie kämpfen mit Personalmangel ebenso wie mit der steigenden Zahl betreuungsintensiver Tiere“, sagte Schröder. Würde jetzt nicht gegengesteuert, stünde der karitative Tierschutz in Deutschland vor dem Aus.

Ironie des Schicksals: Während der Minister sich im Tierheim umsah, wurde am Tor ein Labrador-Mix angebunden. Der Hund wurde gefunden, als Özdemir gerade weg war. Er heißt jetzt Cem.