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"Saksen kommt zu uns": Warum die Wahlen in Taiwan auch Sachsen betreffen

Seit vergangenem Jahr gibt es ein sächsisch-taiwanisches Büro in Taipei. Dabei wird der Inselstaat Taiwan von Deutschland nicht anerkannt. Doch die aktuellen Wahlen könnten entscheidend für Sachsen sein.

Von Luisa Zenker
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Über Taiwans Zukunft entscheiden die Präsidentschaftswahlen am Samstag. Sie haben auch Folgen für Sachsen.
Über Taiwans Zukunft entscheiden die Präsidentschaftswahlen am Samstag. Sie haben auch Folgen für Sachsen. © ChiangYing-ying/AP/dpa

Grün-rote Froschschenkel liegen hinter einer Glasvitrine, daneben köcheln Süßkartoffelpommes in einem Öltopf, gegenüber wird auf Papptellern taiwanisches Eis serviert: Zerkleinerte Eiswürfel mit gezuckerten Bohnen, Erdnüssen, Süßkartoffeln. Zwischen all den Duftnoten, umgeben von dutzenden Köstlichkeiten; lächelt selbstbewusst die Kochbuchautorin Ivy Chen. Die schlanke Frau mit gedrungener Gestalt führt über einen Nachtmarkt in Taipei, der Hauptstadt des Inselstaats Taiwans. Vier Millionen Menschen leben hier, etwa so viele wie in ganz Sachsen.

Taiwanisches Essen – was leicht und lecker klingt, hat einen bitteren Beigeschmack für Ivy Chen. Für sie bedeutet es mehr als nur Rezepte: „Taiwanisches Essen ist nicht chinesisch“, sagt sie auf Englisch, sie muss laut sein, um das Treiben auf dem Nachtmarkt zu übertönen, dort dampft und köchelt es in allen Gassen. Ihr geht es hier nicht um Stinke-Tofu und Bubble-Tea, sondern um Abgrenzung und Stolz. Denn Chen will endlich, dass taiwanisches Essen nicht als Teil der chinesischen Küche betrachtet wird.

Auf dem Nachtmarkt in Taiwans Hauptstadt Taipeh dampft und köchelt es in allen Gassen. Viele Taiwanesen legen Wert darauf, dass ihre Küche nicht chinesisch ist.
Auf dem Nachtmarkt in Taiwans Hauptstadt Taipeh dampft und köchelt es in allen Gassen. Viele Taiwanesen legen Wert darauf, dass ihre Küche nicht chinesisch ist. © Luise Zenker

Dass selbst in Taiwans Kochtöpfen der große Nachbar China mitgekocht wird, verdeutlicht, wie weit der Konflikt zwischen den beiden Ländern geht. Denn zwischen China, der autokratischen Nation, die auf der Weltkarte nicht zu übersehen ist, und dem demokratischen Inselstaat Taiwan, ein kleiner Punkt im Meer, liegen nicht nur unzählige Liter Meereswasser. Dazwischen spitzt sich ein Konflikt zu, der sich mit der jüngsten Neujahrsansprache des chinesischen Staatsführer Xi Jinping noch verschärft zu haben scheint.

Das Spiel zwischen Freiheit und Provokation

Darin betonte Xi seine Bestrebungen, Taiwan einnehmen zu wollen. Die Volksrepublik betrachtet die de facto unabhängige Insel-Demokratie als Teil der eigenen Nation, obwohl die Kommunistische Partei sie nie beherrscht hat. Zudem hat Peking im vergangenen Jahr mehrere groß angelegte Militärübungen durchgeführt, an einem Tag mehr als hundert Kampfflugzeuge in Richtung Taiwan geschickt, ja sogar eine Blockade der Insel simuliert. Eine Invasion Chinas scheint möglich.

Das könnte auch Folgen fürs ferne Sachsen haben, das derzeit die Nähe zu Taiwan sucht. Weil der taiwanische Chipgigant TSMC in Dresden eine Fabrik für mehrere Milliarden bauen will, eröffnete der Freistaat im vergangenen Jahr sogar ein eigenes Büro auf der Insel. Doch das Land steht auf der Kippe. An diesem Sonnabend wird dort gewählt. Für welchen Präsidenten sich die Taiwaner und Taiwanerinnen dann entscheiden, wird bestimmen, wie die Beziehungen zwischen China und Taiwan verlaufen. Es geht darum, ob sich Taiwan weiterhin Richtung Westen orientiert oder von chinesischen Machthabern eingenommen wird.

Seit vergangenem Jahr gibt es ein sächsisch-taiwanisches Büro in Taipei. Dabei wird der Inselstaat Taiwan von Deutschland nicht anerkannt. Doch die aktuellen Wahlen könnten entscheidend für Sachsen sein.
Seit vergangenem Jahr gibt es ein sächsisch-taiwanisches Büro in Taipei. Dabei wird der Inselstaat Taiwan von Deutschland nicht anerkannt. Doch die aktuellen Wahlen könnten entscheidend für Sachsen sein. © dpa Grafik

Im Wahlkampf dreht es sich deshalb maßgeblich darum, welche Partei einen Krieg verhindern könnte. Ein Grund, warum Jason Pan von der englischsprachigen Zeitung Taipei Times in Dauerbereitschaft ist. Der Journalist im gestreiften T-Shirt und mit kugelrunder Brille sieht überarbeitet aus. Seine Tage fangen früh um neun an und gehen bis nachts halb elf, auch am Samstag. Pan hat in den letzten Wochen versucht, jede Wahlkampfveranstaltung in Taipei mitzunehmen.

Auch an diesem Abend rennt er durch die nächtlichen Straßen der Großstadt, führt auf einen mit Flutlicht beleuchteten Sportplatz. Polizisten stehen davor und kontrollieren die Handtaschen auf Waffen, hinter ihnen ist eine tobende Menge zu hören. Die noch lauter wird, als der 64-jährige William Ching-te Lai auf die Bühne tritt. Er kandidiert für die Demokratische Fortschrittspartei (DPP), der auch die amtierende Staatspräsidentin Tsai Ing-wen angehört, doch die 67-Jährige darf sich nach zwei Amtszeiten nicht wieder zur Wahl stellen. So etwas wäre im autoritären China nicht möglich, dort hält Xi Jinping mittels Scheinwahlen sein Amt und führt das Land bereits seit mehr als zehn Jahren.

Drei Parteien ringen um die Macht

Auf dem Sportplatz feiern etwa zweihundert Menschen den Präsidentschaftskandidaten, schwenken gelbe Fahnen unter dem Nachthimmel. „Sie sprechen taiwanisch“, erklärt Journalist Jason Pan, der den Dialekt selbst schwer versteht, denn die Hauptstadt spricht größtenteils Mandarin. Doch die DPP versucht, den taiwanischen Dialekt wieder zu etablieren. Als Teil der Nationenbildung.

Wahlkampf in Taipei: Beim Demokratieindex liegt Taiwan dicht hinter Deutschland.
Wahlkampf in Taipei: Beim Demokratieindex liegt Taiwan dicht hinter Deutschland. © Journalist.Network
Meinungsfreiheit war lange auch in Taiwan undenkbar, erst seit in den 1990ern wurde das Land demokratisch
Meinungsfreiheit war lange auch in Taiwan undenkbar, erst seit in den 1990ern wurde das Land demokratisch © jn
Auch wenn in der politischen Gemengelage das Thema China allgegenwärtig ist, im Alltag der Menschen zeigt sich: Taiwan ist keine Insel, die auf einen Angriff wartet; die Menschen sitzen nicht in Bunkern, sondern tummeln sich auf Nachtmärkten, in Cafés, Kinos, heißen Quellen.
Auch wenn in der politischen Gemengelage das Thema China allgegenwärtig ist, im Alltag der Menschen zeigt sich: Taiwan ist keine Insel, die auf einen Angriff wartet; die Menschen sitzen nicht in Bunkern, sondern tummeln sich auf Nachtmärkten, in Cafés, Kinos, heißen Quellen. © jn
Typisches Eis in Taiwan: Eiswürfel mit gesüßten Bohnen und Erdnüssen
Typisches Eis in Taiwan: Eiswürfel mit gesüßten Bohnen und Erdnüssen © jn
An zahlreichen Hauswänden weisen Schilder den Weg zu Schutzkellern.
An zahlreichen Hauswänden weisen Schilder den Weg zu Schutzkellern. © jn
Die Kuma-Akademie lehrt nicht schießen, sondern wie man sich vor Fake-News aus China schützt.
Die Kuma-Akademie lehrt nicht schießen, sondern wie man sich vor Fake-News aus China schützt. © jn

Jason Pan hat die Hände nach oben gestreckt, er freut sich über den Elan in seinem Land. „Unterstützt Taiwan“, übersetzt er die lauten Rufe der DPP-Anhänger. Ihm ist anzumerken, dass er hinter der DPP steht. Dabei wird sie von der chinesischen Regierung als separatistisch bezeichnet. Als Präsidentin Tsai 2016 mit der Partei an die Macht kam, brach China den Kontakt zur taiwanischen Regierung ab. In ihrem Programm setzt die Partei vor allem auf eine Stärkung der Verteidigung. Und darauf, das kühle Verhältnis zwischen den beiden Ländern zu erhalten. Während ihre Konkurrenzparteien, die KMT und die TPP, auf stärkere Beziehungen zu China pochen.

Momentan kann der DPP-Kandidat einen Großteil der Taiwaner hinter sich vereinen, während die anderen beiden Parteien KMT und TPP in Wahlumfragen fünf bis zehn Prozentpunkte dahinterliegen. Doch nicht nur der Präsident wird gewählt, sondern auch das Parlament. Und dort sieht es für die chinakritische DPP heikel aus. Sollte sie die Präsidentschaft gewinnen, aber gleichzeitig ihre Mehrheit im Parlament verlieren, gäbe es für Peking Hintertürchen, um die neue Regierung zu umgehen. Das prognostiziert auch der Journalist Pan.

Auch Sachsen hängt an Taiwans Chips

Beim Abendessen mit Muscheln und Udon-Nudeln redet er auch über Sachsen. Bei ihm klingt es hart, wenn er das ausspricht: „Sak-sen“. Bereits 2021 hat er in seiner Zeitung über die Pläne von Taiwan und Sachsen geschrieben. Jetzt sind sie Realität geworden, der Chipgigant TSMC will in Dresden in diesem Jahr ein Werk errichten. 2023 war deshalb eine sächsische Delegation nach Taiwan gereist. Pan streckt jubelnd die Faust nach oben: „Saksen kommt zu uns.“

Der Chip-Riese TSMC hat mehr als zehn Fabriken in Taiwan, in diesem Jahr startet auch in Dresden der Bau.
Der Chip-Riese TSMC hat mehr als zehn Fabriken in Taiwan, in diesem Jahr startet auch in Dresden der Bau. © TSMC

So klein der Punkt mit seinen rund 24 Millionen Einwohnern auf der Weltkarte auch ist, er produziert etwas, ohne das die smarte Welt heutzutage nicht mehr leben könnte: Mikrochips, unerlässlich für Autos, Handys, Laptops, erneuerbare Energien, aber auch Kampfdrohnen.

92 Prozent der unter zehn Nanometer kleinen Chips kommen aus Taiwan, ein Großteil aus dem Unternehmen TSMC, das bald auch in Sachsen mehr als 2.000 Fachkräfte beschäftigen wird. Doch eine Invasion Chinas in Taiwan könnte auch die Dresdner Fabrik lahmlegen, so sieht es etwa die taiwanische Ökonomin Kristy Hsu. Zumal Sachsen ab diesem Jahr jährlich Dutzende deutsche Studierende für sechs Monate auf die Insel schicken wird – auch auf Kosten der Landesregierung.

Jason Pan holt ein Buch aus seinem schwarzen Rucksack. „Chip War“ steht darauf in großen schwarzen Lettern, geschrieben vom US-Amerikaner Chris Miller. „Wer den Zugang zu den Mikrochips kontrolliert, kontrolliert die Welt. China und die USA kämpfen um die Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts“, zitiert Pan. Der Mittfünfziger berichtet seit 30 Jahren über Taiwans Politik und die Chipindustrie. Er würde das Buch am liebsten jedem ausleihen, denn außerhalb von Taiwan sei vielen nicht bekannt, welche Bedeutung Chips haben.

In Taiwan wehen ukrainischen Flaggen

Als erfahrener Journalist kennt er die Hauptstadt wie seine Westentasche, eilt hastig durch die schachbrettartigen Straßen Taipeis – ganz der rasende Reporter. Der Verkehr dröhnt an ihm vorbei, Tausende Motorroller düsen entlang der Tempel und Wolkenkratzer. An einigen Kreuzungen flattern ukrainische Fahnen. Die Solidarität mit der Ukraine ist auf der Insel groß. Dabei liegen Tausende Kilometer zwischen den Staaten.

Doch wie der taiwanische Außenminister im Interview erklärt: „Wenn Russland in der Lage ist, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, dann könnte China das auch mit Taiwan tun – und das könnte zu ähnlichen Gräueltaten führen, wie sie die Ukrainer derzeit erleben müssen.“ Wie nah der Konflikt ist, verdeutlichen blau-gelbe Hinweisschilder, sie kleben an zahlreichen Hauswänden der Hauptstadt, zeigen mit roten Pfeilen den Weg zu Schutzbunkern. Der Wehrdienst wurde im Winter von vier auf zwölf Monate erhöht.

Der Kampf für die Demokratie

Auch die Zivilgesellschaft bereitet sich auf den Ernstfall vor. So wirbt die Organisation Kuma-Akademie mit einem dunkelbraunen Bären, der ein Gewehr vor sich hält. Das lässt Schießkurse vermuten. Doch statt Waffen bekommen die Teilnehmer eine Binde in die Hand.

12.000 Taiwaner und Taiwanerinnen haben bisher freiwillig einen Tageskurs bei der Kuma-Akademie absolviert. Auch an diesem Wochenende sitzen 40 Personen dicht gedrängt in einem Workshop, binden sich gegenseitig blaue Schnallen um den Oberarm. Sie trainieren so, eine blutende Wunde zu stoppen. Anschließend sollen sie sich vorstellen, auf dem Boden zu liegen. Verletzt, blutüberströmt, bewusstlos.

Es ist ein Bild, das plötzlich so real scheint. Es erinnert an die gewaltsamen Szenen im Jahr 2019 aus Hongkong, wo Schlägertrupps Demonstranten in U-Bahn-Schächten bis zur Bewusstlosigkeit prügelten, die Führung der Region hat inzwischen das autoritäre Regime in Peking übernommen. Taiwan will besser auf eine solche Lage vorbereitet sein und sich verteidigen können.

Journalist Jason Pan: Ich habe für die Meinungsfreiheit in Taiwan gekämpft. Und schreibe jetzt über Politik, Chips und Sachsen.“
Journalist Jason Pan: Ich habe für die Meinungsfreiheit in Taiwan gekämpft. Und schreibe jetzt über Politik, Chips und Sachsen.“ © privat

Für die Trainer der Kuma-Akademie geht es aber nicht nur um Erste Hilfe und um Taiwans geopolitische Rolle, sondern auch um Falschmeldungen, die laut der Organisation Reporter ohne Grenzen die Medienlandschaft in Taiwan überschwemmen. Die Trainer sehen darin die größte Bedrohung für die Demokratie. Gerade vor dem Wahltag habe die Zahl der Falschmeldungen aus China rasant zugenommen. Auch Journalist Jason Pan muss achtsam sein, um keine falschen Gerüchte zu verbreiten. In seiner Zeitung entlarvte er erst kürzlich falsche Behauptungen über den Sohn des DPP-Präsidentschaftskandidaten.

Im Wahlkampf geraten aber auch viele andere aktuelle Probleme in den Hintergrund. Pan kennt die Sorgen der jungen Leute um gestiegene Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne, fehlende Gewerkschaften. Der Fachkräftemangel, die problematische Ausrichtung der Wirtschaft allein auf die Chipindustrie, die prekäre Menschenrechtslage von Migranten.

Er selbst gehört einer indigenen Gruppe an, die in Taiwan von vielen Bewohnern nicht anerkannt wird und dessen eigene Muttersprache bald aussterben wird, sollte sie nicht an Schulen gelehrt werden. Auch die in Deutschland so immens verfolgte grüne Transformation spielt in Taiwan nur eine untergeordnete Rolle. Die grüne Partei liegt bei lächerlichen 2,4 Prozent, für Jason Pan nicht einmal der Rede wert. Für ihn steht einzig im Mittelpunkt: Gewinnt die chinakritische DPP? Pan hofft es sehr.

Denn sein größter Wunsch ist, dass sich Taiwans junge Demokratie gegen das chinesische Regime wehren kann. Sie dem großen Nachbarn standhält, damit er weiterhin das schreiben kann, was er denkt. Auch dann noch, wenn die ersten Studierenden aus Sachsen auf die Insel kommen. Und er sie durch die weltoffene Metropole führen darf.

Der Beitrag entstand im Rahmen eines Recherche-Stipendiums von journalists.network