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"Eine Impfpflicht führt nur zu noch mehr Polarisierung"

Der Görlitzer Infektionsepidemiologe Roger Hillert ist gegen die Impfpflicht, aber fürs Impfen. Hier antwortet er dem Gitarristen Lothar Gärtig, der eine Impfung ablehnt.

Von Susanne Sodan
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Dr. Roger Hillert ist Facharzt für Infektionsepidemiologie im Medizinischen Labor Ostsachsen.
Dr. Roger Hillert ist Facharzt für Infektionsepidemiologie im Medizinischen Labor Ostsachsen. © Martin Schneider

Görlitz. Vor einer Woche hatte sich der bekannte Görlitzer Gitarrist Lothar Gärtig in der SZ geäußert, warum er eine Impfung ablehnt. Dr. Roger Hillert, Facharzt für Infektionsepidemiologie am Medizinischen Labor Ostsachsen, lehnt eine Impfpflicht ebenfalls ab - aber Gärtigs Äußerungen möchte er nicht stehen lassen.

Derzeit hat Hillert, der Ende vergangenen Jahres durch seinen Beitrag zum gegenseitigen Umgang in der Corona-Pandemie auf Sächsische.de weit über Görlitz hinaus bekannt wurde, ohnehin viel mit Aufklärung über die Impfung zu tun, nicht nur im Labor, wo die meisten Proben aus den Landkreisen Görlitz und Bautzen und viele Fragen eingehen, sondern auch in Pflegeheimen.

In einer Leserzuschrift äußern Sie sich zu dem SZ-Interview mit dem Görlitzer Gitarristen Lothar Gärtig, der eine Corona-Schutzimpfung ablehnt. An welchen Punkten wollen Sie Widerspruch einlegen?

Grundsätzlich sollte man sich nur zu Dingen äußern, von denen man wenigstens etwas versteht. Herr Gärtig bringt es ja fertig, kurz hintereinander zu sagen, dass er von der Problematik nichts verstehe und dass die Fakten gegen die Wirksamkeit der Impfung sprechen würden. Fakt ist, die Impfung hat in Europa mehr als 500.000 Todesfälle verhindert. Impfen schützt und Nicht-Impfen tötet. Das sind die Fakten und die werden auch nicht durch Impfdurchbrüche, Krankenhausaufenthalte von Geimpften und durch die im Vergleich zu Ungeimpften sehr seltenen Todesfälle außer Kraft gesetzt.

Ein Punkt, den Gärtig anspricht, bewegt sicher viele. Anders, als er behauptet, war frühzeitig klar, dass es zwei Impfungen braucht, recht bald war auch klar, dass man boostern muss, also eine dritte Impfung nötig ist. Aber jetzt wird tatsächlich über die vierte debattiert, und doppelt geimpfte Personen gelten nicht mehr als vollständig geimpft. Das zehrt an den Nerven.

Die Informationspolitik war hier einfach schlecht, und andererseits hat das Virus immer wieder Überraschungen parat. Wir alle sind in einem Lernprozess, in dem auch Fehler gemacht werden. Direkt nach meiner zweiten Impfung Ende Januar vorigen Jahres habe ich gesagt, wir sehen uns im November wieder. Da hieß es seitens der Politik noch, zweimal ein kleiner Piks und die Pandemie geht vorbei. Es war aber schon damals recht klar, dass Corona nicht wieder vollständig verschwinden wird. Wir kennen das ja auch von anderen Infektionen, beispielsweise von der Influenza: Die Immunität lässt im Laufe der Zeit nach und zusätzlich mutiert das Virus.

Arzt erwartet kombinierte Grippe-/Corona-Impfung künftig

Wie sieht die Zukunft bei den Impfungen dann aus?

Die wahrscheinlichste Variante wird sein, dass es gemeinsam mit der Influenza-Impfung jedes Jahr eine empfohlene Corona-Impfung gibt, wahrscheinlich sogar in einem Kombi-Impfstoff und sehr wahrscheinlich als mRNA-Impfung. Das wird sich mit zunehmender Herdenimmunität in den nächsten zwei bis drei Jahren so einpendeln. Eine vierte oder gar fünfte Impfung kurz nach der dritten macht allerdings aus meiner Sicht keinen Sinn, das haben Studien in Israel gezeigt.

Sie haben gerade besonders viel mit Aufklärung über die Schutzimpfung zu tun, allerdings nicht im Labor, sondern an medizinischen Einrichtungen. Wie kam das?

Ich bin ja ein großer Fan der Impfungen, insbesondere der mRNA-Impfstoffe. Aber eine Impfpflicht, vor allem zum gegenwärtigen Zeitpunkt, lehne ich ab. Jetzt haben wir das Dilemma mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Nicht wenige Mitarbeiter in Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern sind ungeimpft.

Sind es tatsächlich so viele, die sich nicht impfen lassen wollen, wie es nach außen scheint?

Ich schätze auf 20 bis 30 Prozent, unter den Ärzten sind es deutlich weniger.

Die Verunsicherung unter Pflegekräfte ist groß

Sind ihre Gründe ähnlich wie die von Lothar Gärtig oder ganz andere?

Die Gründe sind höchst unterschiedlich, nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter zweifelt grundsätzlich an der Wirksamkeit der Impfung. Ein erheblicher Teil war bereits an Corona erkrankt, die meisten zwar nur leicht, haben aber immer noch Antikörper. Der medizinische Nutzen einer Impfung für diese Mitarbeiter ist bei weitem nicht so hoch, wie für andere ohne jeglichen Immunschutz. Trotzdem schützt eine Grundimmunisierung und spätere Auffrischungsimpfung zumindest teilweise vor dem Weiterverbreiten der Erkrankung - die Ausscheidung des Virus erfolgt kürzer und in geringerer Menge. Die Mitarbeiter sind also in einer Konfliktsituation. Viele der ungeimpften Pflegekräfte lehnen die Impfung keineswegs ab, manche sind so verunsichert, dass sie gar nicht mehr schlafen können. In dieser Situation versuche ich, Ängste vor der Impfung zu nehmen - jede Autobahnfahrt ist gefährlicher -, und Fragen zu beantworten.

"Eine Impfpflicht führt zu noch mehr Polarisierung"

Dennoch hatten Sie sich bereits zur Impfsprechstunde im Gerhart-Hauptmann-Theater, bei der sie mit dem Intensivmediziner Matthias Linke viele Fragen beantworteten, gegen eine Impfpflicht ausgesprochen. Warum?

Eine allgemeine Impfpflicht hätte uns zu früheren Phasen der Pandemie sicher etwas genützt, um uns besser über die Winter zu bringen. Zum Teil war damals aber noch gar kein Impfstoff verfügbar, es wäre also gar nicht möglich gewesen. Jetzt wissen wir nicht so richtig, was eine Impfpflicht uns bringt. Außerdem sind zahlreiche Voraussetzungen wie etwa ein Impfregister nicht erfüllt. Wenn wir gar nicht wissen, wer geimpft ist und wer nicht - wie wollen wir eine Impfpflicht dann kontrollieren? Und wir haben auch noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Noch können wir mit den Leuten sprechen, es kommen noch neue Impfstoffe wie Novavax und Valneva. Außerdem sind wir inzwischen in der Omikron-Welle angekommen, die eben auch für Immunisierung sorgen wird. Und ehe wir eine Impfpflicht geschaffen haben, wird es vielleicht Mai sein. Dann werden die Zahlen erfahrungsgemäß rückläufig sein - und die Akzeptanz noch geringer. Es würde eher zu noch mehr Polarisierung führen.

Sie sprachen Omikron an. Macht sich die Variante in den Fallzahlen schon bemerkbar oder ist die Lage noch relativ entspannt im Labor?

Im Moment ist die Lage eher noch entspannt, aber Omikron ist auch bei uns da. Im Moment können wir anhand der Variantenanalysen und Sequenzierungen sagen, dass etwa 80 Prozent der Erkrankungen durch Omikron bedingt sind und 20 Prozent durch Delta. In spätestens zwei Wochen wird Delta eine Rarität sein. Wir beobachten mit der Omikron-Variante neben anderen Veränderungen eine ganz andere Verteilung der Infektionen. Während vorher die ländlichen Gebiete stärker betroffen waren, liegt seit Omikron offensichtlich der Schwerpunkt in den größeren Städten. Selbst in Sachsen sieht man das deutlich, Leipzig hat derzeit die höchste Inzidenz.

Omikron hat es im ÖPNV jetzt leicht

Haben Sie eine Erklärung?

Das mag unterschiedliche Ursachen haben wie unterschiedliches Sozialverhalten oder unterschiedliche Durchseuchung. Ich denke aber die Hauptursache ist der ÖPNV. Omikron wird so leicht übertragen und in vielen Städten war bisher in Bussen und Bahnen nur eine medizinische und keine FFP2-Maske Pflicht. Ich vermute, dass überfüllte U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse im Gegensatz zu früher stärker zum Geschehen beitragen. Wir könnten jetzt also spekulieren, dass die Omikron-Welle bei uns flacher verläuft, und dafür vielleicht länger anhält.

Im Moment wird debattiert, dass Labore Proben priorisieren sollen, falls wie in anderen Ländern Omikron zu einem massiven Anstieg der Fallzahlen und damit zu einer Überlastung der Labore führen würde. Dann sollen also Proben von Personen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, Priorität haben. Was halten Sie davon?

Das ist in den Laboren kaum umzusetzen, priorisieren muss der Gesetzgeber und die einzelne Arztpraxis. Also muss man fragen, wer braucht auf jeden Fall eine PCR: Das sind alle, die richtig krank sind, alle die stationär aufgenommen werden und tatsächlich alle, die in der kritischen Infrastruktur arbeiten. Warum es im ambulanten Bereich eine Freitestung aus der Quarantäne mit PCR gibt, hat sich mir noch nie erschlossen, da hätte schon immer ein hochwertiger Schnelltest gereicht. Wir versuchen grundsätzlich, alle PCR-Tests in weniger als 24 Stunden nach Eingang im Labor abzuarbeiten. Das hat auch immer geklappt, allerdings waren wir im November eigentlich über unserem Limit mit mehr als 12.000 Proben die Woche bei einer Positivrate von teilweise 60 Prozent. Derzeit ist die Lage eher entspannt, wir haben rund 2.500 bis 3.000 Proben in der Woche und eine Positivrate von etwa 30 Prozent.