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Wie eine Frau aus Charkiw in Görlitz neuen Lebensmut findet

Die 17-jährige Alina Nesterenko lebt seit Ende März in Görlitz, organisiert Veranstaltungen für Landsleute, machte ihr Abitur und studiert jetzt online. Aber die Sehnsucht nach der Heimat bleibt.

Von Ingo Kramer
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Alina Nesterenko steht in der Ausstellung mit Bildern, die von ukrainischen Jugendlichen gemalt worden sind.
Alina Nesterenko steht in der Ausstellung mit Bildern, die von ukrainischen Jugendlichen gemalt worden sind. © Martin Schneider

Einen Ort wie das Zentrum für Jugend- und Soziokultur, die Rabryka im Görlitzer Werk I, hatte Alina Nesterenko in Charkiw auch. Es war ein Haus, in dem man Projekte organisieren oder einfach Partys besuchen konnte. „Ich bin dort oft als Gast gewesen“, berichtet die Ukrainerin, die vergangene Woche 17 Jahre alt geworden ist.

Sie vermisst diesen Ort, seit im Februar der russische Invasionskrieg in der Ukraine begann. „Aber jetzt“, sagt sie, „habe ich einen kleinen Teil davon in Görlitz.“ Nämlich in der Rabryka, wo sie als Praktikantin tätig ist. Am 30. März kam sie nach Zwischenstationen in Polen zusammen mit ihren Eltern und ihrem Hund als Flüchtling nach Görlitz. Sie kam mit guten Englischkenntnissen. Die deutsche Sprache aber war ihr fremd. Mittlerweile versteht sie schon ganz gut deutsch, kann die neue Sprache aber noch nicht sprechen.

Eine wichtige Station in Görlitz war für sie das Büro der Bündnisgrünen auf der Jakobstraße. Sie lobt Anne Döring, die dort arbeitet: „Sie hat uns viel geholfen.“ Sie habe auch den Kontakt zur Rabryka vermittelt. Eines Tages nämlich erhielt Alina Nesterenko einen Anruf von Rabryka-Geschäftsführerin Julia Schlüter. „Sie hat mich gefragt, ob ich ein Teil der Rabryka-Familie sein möchte.“ Sie habe schnell zugesagt, obwohl sie die Rabryka noch gar nicht kannte. Und sie habe es nie bereut: „Es ist wirklich ein schöner Platz mit tollen Leuten.“

Ausstellung war die erste Aufgabe

Julia Schlüter hat ihr einen Praktikumsplatz verschafft, der über das Deutsch-Polnische Jugendwerk finanziert wird. Das Geld für die konkrete Projektumsetzung der Inhalte kommt aus dem Programm „Sonnenstunden“ der Kulturstiftung der Länder. Ganz am Anfang, im Juni, hat Alina Nesterenko zunächst das Haus kennengelernt und bei Projekten mitgeholfen. Doch schon bald bekam sie eine erste Aufgabe, bei der sie sich intensiver einbringen konnte. Es ging um eine Ausstellung von Bildern ukrainischer Jugendlicher, die bis Ende September in der Rabryka zu sehen ist. „Ich habe dafür Texte auf Ukrainisch geschrieben und auch Werbung auf Ukrainisch gemacht“, sagt sie. Zudem durfte sie sogar mitentscheiden, welche Bilder tatsächlich gezeigt werden sollen.

Als das gut funktioniert hatte, bekam sie ihr erstes eigenes Projekt: die Organisation einer Holi-Party am 6. August. Das ist ein Fest, bei dem sich Menschen mit Farbpulver bewerfen und ausgelassen mit Tanz und Musik feiern. Das Ganze war vor allem für Ukrainer gedacht, Kinder und Erwachsene gleichermaßen. „Wir hatten mehr als 250 Gäste“, sagt Alina Nesterenko. Die meisten seien Ukrainer gewesen, einige seien sogar aus anderen Städten angereist.

Einmal nicht an die Probleme denken

Sie weiß: Ihre Landsleute brauchen solche lustigen Veranstaltungen, um sich für ein paar Stunden von ihren Sorgen abzulenken, einmal nicht an die Probleme zu denken: „Das macht es einfacher.“ Allen habe es sehr gut gefallen und ganz viele hätten sie gebeten, wieder einmal etwas zu veranstalten, das für Ukrainer interessant ist. Das Nächste war dann ein Kinoabend, bei dem ein ukrainischer Film gezeigt wurde und zu dem etwa 50 Gäste kamen.

„Mein größtes Vergnügen ist das Feedback der Gäste“, sagt sie. Und sie habe viel Feedback erhalten. Viel Lächeln von Kindern, viele Dankesworte von Erwachsenen: „Das hat mich sehr motiviert.“ Mittlerweile organisiert sie auch Malkurse mit der ukrainischen Lehrerin Luba, die seit Ende August jeden Montag um 16 Uhr stattfinden. Ab 4. Oktober sollen regelmäßige Tanzkurse mit ukrainischen Lehrern dazukommen. „Und ich hoffe, dass ich im Oktober die nächste Party veranstalten kann“, sagt Alina Nesterenko. Bei all ihren Projekten macht sie Fotos. Eines davon ziert den Rabryka-Monatsflyer für den September.

Wenn sie nicht selbst etwas organisiert, kommt sie aber auch gern als Gast in die Rabryka. Ein Konzert hat sie besucht. Und wenn sie an die jeden Mittwoch stattfindende „Küche für alle“ denkt, lächelt sie: „Wir Ukrainer lieben den Mittwoch in der Rabryka.“ Da kommt sie mit Familie und Freunden vorbei, auch mit ihren Eltern.

Im Mai hat sie die Schule abgeschlossen – wie in der Ukraine üblich nach der 11. Klasse. Kriegsbedingt endete ihre Schulzeit mit einem Online-Abschluss. Seit September nun studiert sie an der Wirtschaftsuniversität ihrer Heimatstadt Charkiw – natürlich ebenfalls online. „Management der Kreativwirtschaft“, nennt sich der Studiengang. „Wenn ich fertig bin, kann ich Projektmanagerin sein oder Partys organisieren“, erklärt die 17-Jährige.

Mutter will in die Ukraine zurückkehren

Ob sie das künftig in Görlitz oder Charkiw tun wird, ist offen. Ihre Mutter will zurück. „Meine Großeltern sind noch dort, außerdem zwei Katzen und ein Hund“, sagt sie. Ob der Vater und sie selbst auch zurückkehren, stehe noch nicht fest. „Ich mag Görlitz sehr“, sagt sie: „Ich habe viele Ukrainer hier und die Rabryka-Familie.“ Aber trotzdem sei es hart für sie, so weit weg zu sein von der Stadt, in der sie mehr als 16 Jahre lang gelebt hat: „Ich würde gern irgendwann zurückkehren in mein Zuhause und wieder in meinem Bett schlafen.“