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Halbwahrheiten eines Meißner AfD-Mannes

Um Sachsens Regierung an den Pranger zu stellen, fragt der Landtagsabgeordnete Thomas Kirste gern Zahlen ab und reimt sich die Erklärung selbst zusammen.

Von Peter Anderson
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Der Meißner AfD-Abgeordnete Thomas Kirste nutzt Zahlen aus Kleinen Anfragen gern, um daraus Pressemitteilungen zu generieren. Die Ursachen für die Zahlen erfindet er oft selbst.
Der Meißner AfD-Abgeordnete Thomas Kirste nutzt Zahlen aus Kleinen Anfragen gern, um daraus Pressemitteilungen zu generieren. Die Ursachen für die Zahlen erfindet er oft selbst. ©  Archiv/Sebastian Schultz

Meißen. Alle Branchen im Freistaat erlebten aufgrund von Coronakrise und Lockdown einen Existenzgründerschwund um 50 Prozent. Dies deute auf eine Wirtschaftsrezession ungeahnten Ausmaßes hin. In der Folge seien unzählige Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht. Viele Gewerbetreibende stünden vor dem Aus. Wer diese Zeilen aus einer Pressemitteilung des Meißner Büros von Thomas Kirste liest, der dürfte Sachsen als ein Land am Abgrund sehen.

Als Basis für die dramatischen Vorhersagen dient dem AfD-Landtagsabgeordneten die Antwort des sächsischen Wirtschaftsministeriums auf eine von ihm gestellte Kleine Anfrage. Das parlamentarische Instrument wird bundesweit vor allem von Oppositionsparteien gern genutzt, um Informationen einzuholen und die Arbeit der jeweiligen Regierung auf Schwachstellen zu untersuchen. Bis auf wenige Ausnahmen sind die angefragten Behörden verpflichtet, aussagekräftig zu antworten.

Kleine Anfragen sind ein wichtiges Mittel vor allem für die Abgeordneten der Oppositionsparteien im Landtag, um Informationen einzuholen. Damit ist aber auch eine besondere Verantwortung verbunden, sagt der Bündnisgrünen-Abgeordnete Valentin Lippmann.
Kleine Anfragen sind ein wichtiges Mittel vor allem für die Abgeordneten der Oppositionsparteien im Landtag, um Informationen einzuholen. Damit ist aber auch eine besondere Verantwortung verbunden, sagt der Bündnisgrünen-Abgeordnete Valentin Lippmann. © dpa/Robert Michael

Der 43-jährige Meißner stellt Kleine Anfragen gern und häufig. 184 sind bislang von ihm in der Datenbank sächsischer Parlamentsdokumente aufgeführt. Dabei sitzt der frühere Hochschulmitarbeiter erst seit September 2019 im Landtag.

Der Zweck und das Ziel seiner Kleinen Anfragen lassen sich oft schon durch die Art der Frage identifizieren: So erkundigt er sich nach "Sachbeschädigungen in Flüchtlingsunterkünften im Landkreis Meißen" oder nach der Zahl "Weiblicher Genitalverstümmelung an Mädchen im Landkreis Meißen". Ein andermal interessiert ihn, wie viele "Deutschsprachige Titel und Interpreten beim MDR Sachsen - Das Sachsenradio" zu hören sind.

Vollbeschäftigung bremst Gründerlust

In vielen Fällen fragt Kirste lediglich Zahlen ab, so auch beim Thema "Entwicklung der Existenzgründungen im Landkreis Meißen". Zu den Ursachen hakt er beim zuständigen Ministerium nicht nach. Die liefert der Parlamentarier selbst in Pressemitteilungen, welche über die parteieigenen Kanäle wie etwa bei Facebook ausgespielt sowie an die Medien weitergegeben werden.

Indes fördert eine Recherche beim Wirtschaftsministerium über das Zustandekommen der Zahlen interessante Fakten zutage. Die Pressestelle bestätigt: Die Gründerlust ist in Sachsen seit 2011 kontinuierlich rückläufig. Allerdings sei gerade der hohe Grad der Beschäftigung in Deutschland dafür verantwortlich. Einige potenzielle Gründer verblieben lieber im sicheren Angestelltenverhältnis.

Gleichzeitig verweist die Behörde darauf, dass der Schritt in die Selbstständigkeit nicht per se positiv zu bewerten ist. Bestes Beispiel sind die sogenannten Ich-AGs, welche im Zuge der Hartz-IV-Reformen entstanden. Sie waren kein Zeichen für wirtschaftlichen Aufschwung, sondern Notlösungen, um Menschen aufgrund fehlender Alternativen aus der Arbeitslosigkeit zu bringen. Die Gleichung "Existenzgründerboom gleich Wohlstand" geht nicht auf.

"Die von Herrn Kirste verbreitete Analyse ist falsch"

Anderes Thema, gleiche Masche: Dem Freistaat drohe ein beschleunigter Verfall seiner historischen Bauwerke, so Thomas Kirste in einer weiteren Pressemitteilung. Ist unsere Kultur nichts wert?, fragt er rhetorisch auf Facebook. Sachsens Staatsregierung habe bis Oktober 2020 gerade einmal gut 20 Prozent, der im vergangenen Jahr bewilligten Fördermittel für den Erhalt und die Pflege besonders hochwertiger und national wertvoller Kulturdenkmale, ausgezahlt. Nach der Corona-Pandemie könnten Hunderte wunderschöner sächsischer Kulturdenkmale nicht mehr besichtigt werden, da sie "bis dahin schlicht in sich zusammengebrochen sein werden."

Im Staatsministerium für Regionalentwicklung zeigt sich die stellvertretende Pressesprecherin Bianca Schulz erstaunt über diese Art von Schwarzmalerei: "Die Erklärung für die Antworten der Kleinen Anfrage ist eine andere, als die Analyse von Herrn Abgeordneten Kirste es hergibt. Hätte Herr Kirste nach den eigentlichen Gründen gefragt, hätte unser Haus sie ihm selbstverständlich gern übermittelt und erklärt. So ist die von Herrn Abgeordneten Kirste verbreitete Analyse leider falsch."

Nach Angaben der Behörde werden Fördermittel für Baumaßnahmen erfahrungsgemäß erst zum Ende des Jahres abgerechnet. Dies sei auch 2020 der Fall gewesen. Verstärkend habe sich Bauverzug aufgrund der Corona-Pandemie ausgewirkt. Im Zeitraum zwischen dem Stichtag der kleinen Anfrage und dem Jahresende wurden laut Ministerium weitere Anträge bewilligt und dann für hochwertige Denkmale noch knapp zehn Millionen Euro abgerufen und ausgezahlt. Rund zehn Millionen Euro seien in diesem Bereich allerdings nicht abgerufen worden. Diese gingen jedoch nicht verloren, sondern stünden als Ausgabereste 2021 erneut bereit.

Stimmungsmache durch Weglassen von Fakten

Das Erfinden populistischer Interpretationen ist dabei nur ein Mittel, welches der AfD-Politiker verwendet, um Ängste zu schüren. Eine weitere Methode besteht im Weglassen von Fakten und Erklärungen, die ihm vorliegen beziehungsweise bekannt sind. So geißelt Kirste die Umfunktionierung eines Studentenwohnheimes im Meißner Stadtteil Bohnitzsch zur Flüchtlingsunterkunft als "unsinniges Millionengrab". Er behauptet: "Der Rückbau zum Studentenwohnheim verschlang noch einmal 3,1 Millionen Euro."

Verschwiegen wird von ihm, dass das Wohnheim nach Aussagen des Finanzministeriums nach über 20-jähriger Nutzung schon vor der Nutzung als Erstaufnahme sanierungsbedürftig und und in einem abgewohnten Zustand gewesen sei. "Daher waren Leistungen aufgrund der Nutzung als Erstaufnahme, und um das Wohnheim generell in einen zeitgemäßen Standard zu versetzen, notwendig."

Landespolitiker Frank Richter übt Kritik AfD-Mann Thomas Kirste: "Ich habe Herrn Kirste bisher nur einmal im Plenum reden gehört. Ich würde ihn gern öfters hören, um mich dann auf offener Bühne mit seinen Positionen auseinanderzusetzen."
Landespolitiker Frank Richter übt Kritik AfD-Mann Thomas Kirste: "Ich habe Herrn Kirste bisher nur einmal im Plenum reden gehört. Ich würde ihn gern öfters hören, um mich dann auf offener Bühne mit seinen Positionen auseinanderzusetzen." © C. Hübschmann

Für den ebenfalls in Meißen aktiven Landtagspolitiker Frank Richter, der der SPD-Fraktion angehört, ist das Vorgehen Kirstes durchsichtig. Kritisch sehe er es, wenn einzelne Informationen zusammenhanglos interpretiert und nur die problematischen Seiten angeprangert würden. Es sollten auch die Ursachen einbezogen und die Gründe genannt werden. Richter fordert dazu auf, mögliche Missstände in den Ausschüssen und in den Plenarsitzungen auf offener Bühne vorzutragen. Dann könne darauf geantwortet werden und es zeige sich, wer die besseren Argumente besitze. Er habe Thomas Kirste bislang allerdings nur einmal im Plenum reden gehört.

Einen weiteren Punkt kommentiert Valentin Lippmann, der parlamentarische Geschäftsführer der Bündnisgrünen-Fraktion im sächsischen Landtag. Aus den über Kleine Anfragen erhaltenen Informationen ergebe sich eine Verantwortung dafür, wie sie verwendet würden. "Ein Mandat ist kein Freibrief für das Streuen von Fake-News", so der Landespolitiker. Wenn Abgeordnete der AfD diese Verantwortung nicht wahrnehmen, dann sei es an der Staatsregierung, ihre Auskünfte gegebenenfalls richtig zu stellen. Die Presse sollte die verwendeten Informationen auf ihre Zusammenhänge prüfen, um die Verbreitung von Fake News zu verhindern.

In einer Kleinen Anfrage erkundigt sich Thomas Kirste nach den Kosten für die Sanierung eines Meißner Studentenwohnheims, das zwischendurch Asylunterkunft war. Einen wichtigen Punkt aus der Antwort verschweigt er.
In einer Kleinen Anfrage erkundigt sich Thomas Kirste nach den Kosten für die Sanierung eines Meißner Studentenwohnheims, das zwischendurch Asylunterkunft war. Einen wichtigen Punkt aus der Antwort verschweigt er. © Screenshot SZ

"Bin nicht Pressesprecher der Staatsregierung"

Ganz anders als seine beiden Parlamentskollegen erklärt Thomas Kirste den Hintergrund der von ihm gepflegten Zahlenspiele. "Ich bin nicht der Pressesprecher der Sächsischen Landesregierung, sondern einer der Vertreter der parlamentarischen Opposition im Sächsischen Landtag", so der Meißner. In diesem Sinne hinterfrage er die Arbeit der Staatsregierung auf Grundlage von konkret lieferbaren Bilanzen, nicht hingegen auf Grundlage von Rechtfertigungen und vorgeschobenen Begründungen.

Im Fall des Flüchtlingsheims im Meißner Stadtteil Bohnitzsch behauptet Kirste, von dem Fakt nichts gewusst zu haben, dass die Sanierungsgelder auch Schäden aus der Zeit als Studentenwohnheim abdeckten. Das allerdings muss verwundern, finden sich die Angaben des Ministeriums dazu schließlich in den Antworten direkt unter Kirstes zweiter Frage.

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