Leben und Stil
Merken

Warum kommen wir so schwer vom Auto los?

Sechs Gründe, warum der eigene Pkw vielerorts in Sachsen Hauptverkehrsmittel ist – und Anstöße für Alternativen. Ein Kommentar.

Von Andreas Rentsch
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
© 123rf, Montage: SZ

In drei Wochen trifft sich meine Ex-Schulklasse zum 30-jährigen Abiturjubiläum in der Oberlausitz. Der Gasthof liegt ein wenig abseits. Zumindest für jene, die eine Anreise per Zug erwägen. Vom Bahnsteig bis zur Baude sind es gut vier Kilometer. Wie beim letzten Treffen werden die meisten deshalb wohl mit dem Auto kommen.

Sind wir zu bequem für ein Leben ohne eigenes Auto? Oder sind individuelle Zwänge so stark, dass es dieses Fortbewegungsmittel partout braucht? Je nach Wohnort, Alter, Lebenssituation und Einstellung zum Klimaschutz gehen die Meinungen hier weit auseinander. Der Umwelt zuliebe soll Mobilität künftig mit weniger motorisiertem Individualverkehr funktionieren. Doch davon sind wir weit entfernt. Auch in Sachsen ist der Pkw-Bestand über die Jahre immer weiter gestiegen, auf zuletzt rund 2,18 Millionen. Erst 2022 hat es einen minimalen Rückgang um rund 1.100 Fahrzeuge gegeben, das entspricht 0,1 Prozentpunkten.

Ein weitverzweigtes Netz von Straßen

Ich sehe vor allem sechs Faktoren, warum es vielen so schwerfällt, vom Auto wegzukommen. Erstens: die Infrastruktur. Sachsen verfügt über ein überörtliches Straßennetz von 13.400 Kilometern Länge. Gleichzeitig gibt es nur 1.860 Kilometer straßenbegleitende Radwege an Bundes-, Staats- und Kreisstraßen. Entlang der sechs Kilometer B6, die ich bis 1993 zur Schule geradelt bin, fehlt bis heute eine durchgehende Trasse. Das hiesige Schienennetz wiederum ist zwar mit 2.600 Kilometern vergleichsweise dicht, hat aber nach der Wende viele Streckenstilllegungen erlebt. Wichtige Routen sind immer noch nicht elektrifiziert, Bahnhöfe vergammeln.

Der zweite Grund, warum das Auto für viele erste Wahl bleibt, ist die Flexibilität. Nicht nur Familien schätzen es, einfach vollladen und jederzeit überall hinfahren können. Vor allem auf dem Land geht es konkurrenzlos schnell von Tür zu Tür. Fahrplanstudium? Nicht nötig. Wartezeiten? Nur, wenn das Navi keine Alternativroute um den Stau findet. Dass ein Privat-Pkw im Schnitt nur eine Stunde am Tag bewegt wird und den Rest der Zeit ungenutzt parkt, ist für viele noch kein Grund, ihn abzuschaffen. Die Mehrheit akzeptiert diese Ineffizienz, für sie überwiegen die Vorteile des Autos.

Diesel mit alten Schadstoffnormen dürfen weiter fahren

Drittens spielt das Thema Sicherheit eine Rolle. Zumindest wenn man es egozentrisch denkt. Es macht einen Unterschied, im Auto einen Radfahrer zu überholen oder als Radfahrer von Autos überholt zu werden – Stichwort fehlender Seitenabstand. Wer sich diesem Risiko nicht aussetzen möchte, bleibt im Blech-Kokon.

Viertens: Gesundheit. Senioren und gebrechliche Menschen können mitunter keine weiten Strecken mehr zu Fuß gehen, radeln oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Ihnen bleibt oft nur der eigene Wagen, um mobil zu bleiben.

  • Mehr als 9.000 Menschen aus Ost- und Mittelsachsen haben für den Mobilitätskompass Einblick in ihr Mobilitätsverhalten gegeben. Der Mobilitätskompass wurde unter wissenschaftlicher Begleitung der Evangelischen Hochschule Dresden und in Kooperation mit der Agentur "Die Mehrwertmacher" entwickelt und ausgewertet, die darauf geachtet haben, dass die Aussagen belastbar sind. Bis Anfang Dezember veröffentlicht Sächsische.de die regionalen und lokalen Ergebnisse. Alle erschienenen Beiträge finden Sie auch auf www.saechsische.de/mobilitaetskompass

Punkt fünf sind die Rahmenbedingungen fürs Autofahren. Zwar streben Großstädte wie Dresden und Leipzig eine Verringerung des Pkw-Verkehrs an, vermeiden es dabei aber, allzu rigorose Entscheidungen zu treffen. Während manche westdeutsche Metropolen damit begonnen haben, Dieselautos mit Euro-4- und Euro-5-Abgasnorm auszusperren, haben diese älteren Modelle in Sachsen weiter freie Fahrt. Verwunderlich ist die Zurückhaltung der Entscheidungsträger nicht. Noch ist eine beachtliche Flotte solcher Fahrzeuge zugelassen, das Konfliktpotenzial mit den Haltern enorm. In München etwa wurde das ab Oktober geplante Verbot für Euro-5-Diesel vorerst gekippt.

Zuletzt sorgen kulturelle Gründe dafür, dass wir uns ungern vom Auto lösen. Der eigene Wagen gilt als Statussymbol, ebenso als Garant einer gewissen Freiheit. Häufig ist er für Menschen, die sich kein Wohneigentum leisten können, die teuerste Anschaffung im Leben.

Schnelligkeitsvorteil für E-Bikes in Großstädten

Wie es trotzdem gelingen kann, sich vom Auto als Hauptverkehrsmittel zu lösen? Die Antwort lautet: vor allem durch Investitionen in den öffentlichen Personennahverkehr und dichtere Takte, niedrigere Ticketpreise, den Bau sicherer Radwege, Car-Sharing, Förderung des Fußverkehrs. Der Staat muss mehr tun, um Mobilitätsalternativen zum Pkw attraktiver zu machen. Parallel dazu sind Autofahrer gefordert, ihre Gewohnheiten zu hinterfragen und zu ändern. Mehr Kurzstreckenfahrten zu vermeiden, wäre ein wichtiger Schritt. In Großstädten ginge der Umstieg aufs E-Bike oft nicht mal mit Zeiteinbußen einher. Dort sind Pedelecs für Distanzen bis 7,5 Kilometer das schnellste Verkehrsmittel.

P.S.: Fürs Abitreffen Mitte September habe ich mich gegen das Auto als naheliegende Mobilitätsoption entschieden. Ich werde mit der Regionalbahn fahren – und das letzte Stück laufen. Hoffentlich verpasse ich abends nicht den letzten Zug nach Hause.

E-Mail an Andreas Rentsch

Was denken Sie darüber? Welche Verkehrsmittel nutzen Sie am meisten und warum? Wie zufrieden sind Sie mit den Mobilitätsangeboten in Ihrer Region? Machen Sie mit bei der großen SZ-Mobilitätskompass-Befragung, die an diesem Sonnabend startet.