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Schleier, Strumpfband, Spitzenmaske

Der Trend geht zur Zweit- und Drittmaske. Tatjana Löwen kreiert besonders edle für Bräute und meistert damit eine schwere Zeit. Corona ist nicht ihre erste Krise.

Von Nadja Laske
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Zur Ausstattung der Bräute ist ein neues Detail hinzugekommen: der Mundschutz, passend zum Kleid. Designerin Tatjana Löwen fertigt sie in ihrem Dresdner Atelier.
Zur Ausstattung der Bräute ist ein neues Detail hinzugekommen: der Mundschutz, passend zum Kleid. Designerin Tatjana Löwen fertigt sie in ihrem Dresdner Atelier. © Christian Juppe

Dresden. Sie hat gelacht und abgewinkt. "Man kann es auch übertreiben", dachte sich Tatjana Löwen. Fein gewirkte Spitzen zum Mundschutz verarbeitet, das belustigte die Schneidermeisterin zunächst. Gesehen hatte sie den vermeintlich modischen Gag auf einem Foto, gepostet von einer Berliner Designerin. 

Mund-Nasen-Bedeckungen zu nähen, das hatte sie bereits im März begonnen. Als die Allgemeinverfügung das Tragen der Schutzmasken in allen öffentlichen Räumen, in Verkehrsmitteln und Supermärkten vorsah, nähten Tatjana Löwen, ihre Auszubildende und ihre Praktikantin im Akkord. Ausgediente Oberhemden, entbehrliche Bettwäsche, jeden übrigen Stoffrest verarbeiteten sie. "Ich kenne das Leben in der ehemaligen Sowjetunion, wo man nichts wegwirft, weil man es irgendwann mal braucht", sagt die Russlanddeutsche und lacht. Aus Kisten und Schubkästen kramte sie Bänder und Gummis, auf dem Markt wurden sie knapp, seit unzählige Ehrenamtliche, aber auch Schneiderinnen wie sie den neuen Bedarf zu decken versuchten.

"Als uns der Baumwollstoff ausging, haben wir ein Experiment mit Jerseystoffen gewagt", erzählt Tatjana Löwen. Sie nähte eine Maske und bat einen ihrer Nachbarn, sie zehn Minuten lang in Wasser zu kochen. Sie überlebte, war nachher noch genau so groß, elastisch und farbenfroh wie vorher und wurde zum Prototyp eines Renners. Viele Käufer kaufen und lieben sie bis heute, weil sie sich schön weich anfühlen.

"Ich habe vor Verzweiflung nicht weiter gewusst"

Und dann stand diese junge Frau in Tatjana Löwens  Atelier "Silhouette" in den Neustädter Kunsthofpassagen. "Sie fragte, ob ich ihr eine festliche Maske nähen könnte, die sie zur Hochzeit ihrer Freundin im Standesamt tragen könnte." Da lachte die Designerin nicht mehr. Längst ging der Trend zur Zweit- und Drittmaske. Kundinnen kauften sie wie Accessoires passend zu ihrer Alltagskleidung, nach dem Motto "Wenn schon - denn schon!" Dass auch edel wirkende Masken aus Spitze und Seide gefragt sind, das bezweifelte die 51-Jährige keinen Moment länger. Nun bewundern Passanten nicht nur ihre Hochzeitskleider im Schaufenster, sondern auch den dazugehörigen Spitzen-Mundschutz.

Schon mehr als zehn Jahre lang betreibt Tatjana Löwen ihr Atelier im Kunsthof. Als sie 1999 als Spätaussiedlerin mit Mann und Kind nach Dresden geschickt wurde, hatte sie große Hoffnungen auf das neue Leben in Deutschland. Doch bis sie ihr eigenes Unternehmen führen konnte, vergingen etliche Jahre. "Ich habe damals so wenig Deutsch gesprochen, dass ich mich heute frage, wie ich mich überhaupt verständigen konnte", erinnert sie sich. 

Aber sie machte sich verständlich - zielstrebig und unerschrocken. Beim Arbeitsamt zum Beispiel, das ihr zunächst weder einen Job als Damen- und Herrenmaßschneiderin noch eine passende Weiterbildung anbieten konnte. "Ich wollte meinen Beruf ausüben", sagt Tatjana. Erst sollte sie Altenpflegerin werden, dann bot man ihr eine Umschulung zur Kosmetikerin an. "Ich habe mich so schlecht gefühlt, weil ich dachte, ich dürfe das nicht ablehnen." Eine Freundin fragte sie mit ernster Miene: "Willst du wirklich Kosmetikerin werden?" Nein, das wollte sie nicht. "Dann sage die Umschulung ab und kämpfe weiter für deinen Beruf", riet die Freundin.

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Das hat Tatjana gemacht, sich umgehört und bei Beratungsstellen erkundigt. Endlich durfte sie an einem einjährigen Kurs mit dem sperrigen Namen "Wiedereinstieg im Handel für Spätaussiedler" teilnehmen. Für das abschließende Praktikum suchte sie sich das Geschäft einer Maßschneiderin aus. "Ich blieb und habe sieben Jahre lang dort gearbeitet", sagt Tatjana. Noch heute ist sie ihrer damaligen Chefin dankbar. "Ohne so viel von ihr zu lernen, hätte ich den Weg in die Selbstständigkeit nicht geschafft."  

Neben der Arbeit hatte sie die Meisterschule besucht und schließlich den Brief überreicht bekommen, der nun in ihrem Atelier an der Wand hängt. Seit 2011 arbeitet sie selbst im Prüfungsausschuss der Handwerkskammer mit und nimmt Meisterprüfungen ab. Die sechste Auszubildende lernt gerade bei ihr im ersten Lehrjahr, und zahlreiche Praktikanten hat Tatjana zur ersten Begeisterung für den Schneiderberuf verholfen.

Dass auch das stärkste Wesen nicht unendlich belastbar ist, das erlebte Tatjana Löwen am Anfang der Corona-Krise. "Da habe ich eines Abends im Atelier alle Rollläden heruntergelassen und vor Angst und Verzweiflung nicht mehr weiter gewusst." Eine solche Hoffnungslosigkeit war lange nicht mehr über sie hereingebrochen. "Aber dann habe ich mich wieder aufgerichtet und mir gesagt: Den Umsturz der gesamten Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion, mit katastrophalen Auswirkungen für so viele Menschen, habe ich überstanden. Diese Zeit überstehe ich auch." 

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Die Folgen des Shutdowns spürt Tatjana Löwen, obwohl ihr Geschäft schon längst wieder geöffnet ist. Hochzeiten, Jugendweihen und Konfirmationen sind ausgefallen oder ins nächste Jahr verschoben worden. Touristen, die für Lustkäufe in ihr Geschäft kommen, fehlen in der Stadt. Was aus der nächsten Ballsaison ab Herbst wird, kann noch niemand sagen. Die Designerin fertigt zwar die beauftragten Hochzeitskleider an und verkauft sie an die vertagten Bräute. Keine wollte ihr Kleid plötzlich nicht mehr. Wie sich die Nachfrage künftig entwickelt, bleibt aber eine spannende Frage. 

"Man muss sich etwas einfallen lassen", sagt Tatjana Löwen. Das tut sie. Mit einer benachbarten Dessoushändlerin hat sie gemeinsame Projekte gestartet. "Wenn man muss, geht man neue Wege, und die sind meistens eine Bereicherung." 

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