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Simmel ist dem Osten dankbar

Viele Sachsen verließen ihre Heimat 1989, Händler Peter Simmel zog von Bayern her. Die Sachsen könnten heute fröhlicher und glücklicher sein, findet er.

Von Sandro Pohl-Rahrisch
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Mit dem Faible für den Osten: Unternehmer Peter Simmel.
Mit dem Faible für den Osten: Unternehmer Peter Simmel. © René Meinig

Einige packten nur die Wanderschuhe ein, andere nahmen alles mit, was sie besaßen. Millionen Ostdeutsche entdeckten den Westen nicht nur über die Ferien, sie verließen ihre Heimat ganz. Allein Dresden verlor von 1989 auf 1990 mehr als 10 000 Einwohner. Einer, der unbedingt in den Osten wollte, war Peter Simmel, damals 30 Jahre alt. Der Mann, der später einmal das Edeka-Imperium kontrollieren und das Dresdner Albertplatz-Hochhaus sanieren sollte, hatte sich allerdings weder Berlin noch Leipzig ausgeguckt. Ausgerechnet am Rand des Erzgebirges wurde der gebürtige Bayer sesshaft.

Nicht, dass Mittelbach, ganz im Westen von Chemnitz, die erste Adresse gewesen wäre, um seinen bayerischen Lebensmittel-Großhandel zu kopieren. Der Kontakt in die kleine Gemeinde kam kurz nach dem Mauerfall eher zufällig zustande. „Ein Mitarbeiter aus unserer bayerischen Firma hatte Verwandte in Mittelbach, die uns besuchten“, erinnert sich Simmel, der erst Marktleiter bei Tengelmann war und sich mit 22 Jahren selbstständig machte. „Wir haben Muster und Geschenke mitgegeben – so kamen sie immer wieder und haben anfangs mit dem Trabi, dann mit dem Barkas B1000 und später mit dem W50-Lkw Ware abgeholt.“ Simmels Mitarbeiter habe schließlich gefragt, ob er nicht im Osten einen Handel aufbauen dürfe. „Und so haben wir die ersten Lkw-Hänger voll mit Lebensmitteln dreimal in der Woche nach Mittelbach gefahren.“

So ganz geheuer war Simmel das Engagement im Osten zunächst nicht, zumal DDR und BRD noch nicht zusammengefunden hatten. „Ich dachte, der Russe wird sich den Osten, nach unserer Wahrnehmung im Westen das „Filetstück“, bald mit Gewalt zurückholen.“ Vier Wochen habe es gedauert, bis der Kaufmann selbst einen Fuß in die DDR setzte. „Gottlob war Herr Gorbatschow an der Macht.“

Im Frühjahr 1990 eröffnete Simmel schließlich seinen Großhandel, ein einfaches Hinterhof-Lager, für das sich jedoch mehr Endverbraucher als Händler interessierten. Der junge Geschäftsmann disponierte um, schnitt die oberen Kartons seiner Warenpaletten auf und stellte zwei Kassen hin. Aus dem Großhandel wurde ein Konsum, wie die Sachsen ihre Supermärkte nannten. Freilich einer, der alles vermissen ließ, was im Westen schon zur Wende zum Standard gehörte – von warm ausgeleuchteten Südfrüchten bis hin zu zig verschiedenen Marmeladen. Und trotzdem, die Menschen kauften und kauften. „Joghurt und Konserven waren die Renner“, so Simmel. Den Becher Joghurt gab es noch für 40 Pfennige.

Ein Schnäppchen? Nicht damals, nicht für DDR-Bürger. Tage nach der großen Währungsunion rechnete das Fernsehen der DDR in der Sendung „Controvers“ vor, wie teuer das Leben wurde, verglichen mit den bisherigen Lebensmittelpreisen. Zahlte man im Osten bislang im Schnitt monatlich 752 Mark für Nahrungs- und Genussmittel, waren es nach dem 1. Juli 1990 rund 885 D-Mark.

Als gönnerhafter Wessi, der die Bananen in den Osten bringt, oder gar als Abzocker sei er damals aber nicht empfangen worden, so Simmel. Herzlich, offen und ehrlich beschreibt er die ersten Begegnungen mit den Sachsen der Wendezeit. „Sonst wäre ich wieder gegangen.“ Der wilde Osten, in dem scheinbar alles möglich war, reizte ihn. „Jeder, der mit Herz Unternehmer ist, wünscht sich solche Zeiten, in denen Dinge entwickelt werden können und in denen dich begeisterte Menschen begleiten. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Wende und den Osten miterleben durfte.“

Als Peter Simmel nach Sachsen kam, sah es den DDR-Supermärkten, hier der Konsum auf der Tornaer Straße in Dresden 1989, noch so aus. 
Als Peter Simmel nach Sachsen kam, sah es den DDR-Supermärkten, hier der Konsum auf der Tornaer Straße in Dresden 1989, noch so aus.  © Waltraut Kossack

Auch, wenn der wilde Osten ziemlich schnell gezähmt wurde. „Die größte Hürde war damals unser Markt in Glauchau. Wir hatten ein Wohnheim, in dem vorher Vietnamesen gewohnt hatten, mit einer Baugenehmigung in einen tollen Supermarkt umgebaut.“ Alles sei ordentlich nach DDR-Recht genehmigt worden. Der Markt öffnete und wurde regelrecht gestürmt. „Ganz Glauchau war lahmgelegt“, erinnert sich Simmel. Doch am zweiten Tag habe sich ein Beamter aus Dresden gemeldet. Der Bayer sollte den Markt sofort wieder schließen. Asbestbelastung! Mit dem neuen, bundesdeutschen Recht sei das nicht mehr vereinbar, hieß es. „Das war ein brutaler Rückschlag.“ Der Händler sollte 600 000 D-Mark für die Sanierung in die Hand nehmen. „Das erschien mir unmöglich, aber wir haben ein Zelt auf dem Parkplatz aufgebaut, die Ware umgeräumt, wieder von der Palette verkauft und die Zeit überstanden.“

Inzwischen führt Peter Simmel eine eigene Aktiengesellschaft, die 20 Edeka-Märkte mit rund 1 000 Mitarbeitern in Sachsen, Thüringen und Bayern betreibt. Der Konzern erwirtschaftete 2017 einen Umsatz von 178 Millionen Euro und einen Gewinn in Höhe von 4,3 Millionen Euro. Bis sich der Geschäftsmann nach Dresden traute, vergingen allerdings mehr als zwei Jahrzehnte. Erst 2012 gab der Stadtrat grünes Licht für das erste Projekt des Investors in der sächsischen Landeshauptstadt. Simmel durfte nicht nur das Hochhaus am Albertplatz sanieren, sondern daneben auch ein Einkaufszentrum bauen. Vor zwei Jahren holte er das Radebeuler DDR-Museum hinein. „Ein Markt in Dresden war schon was Besonderes“, sagt der heute 60-Jährige. „Ich musste erst ansparen, um in Dresden einsteigen zu können.“ Mittlerweile hat er ein zweites Projekt gestartet. Direkt am Hauptbahnhof wächst ein zweites Simmel-Haus in die Höhe. Allein für die Immobilie hat er fast vier Millionen Euro hingelegt. Ein Einkaufsmarkt, ein Hotel und Büros sollen bis Mitte 2021 entstehen. Obwohl Simmel die Stadt „super“ findet, wie er sagt, hadert er auch ein Stück weit mir ihr. „Störend sind Pegida und die AfD“, findet er. „Sicher gibt es vieles, was besser gemacht werden kann, aber das geht nur konstruktiv und gestalterisch, und nicht mit dumpfen Parolen.“

Unterschiede zwischen Ost und West sieht der Unternehmer, der im Chemnitzer Stadtteil Grüna lebt, bis heute. Und damit spricht Simmel nicht nur die ungleichen Einkommen an. „Der Hauptunterschied – und das finde ich traurig – ist, dass die Menschen in Bayern fröhlicher und optimistischer sind als die Sachsen. Dadurch entgehen den Sachsen viele Chancen und auch viel Lebensgenuss.“ Im Vergleich zu anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und zum Rest der Welt lebten die Sachsen im Paradies, wollten dies aber oft nicht wahrhaben. „Wir haben in Sachsen Frieden, alle ein Dach über dem Kopf, gesunde Lebensmittel, sauberes Wasser, saubere Luft, eine gute Schulbildung, ein funktionierendes Gesundheitswesen, freie Meinungsäußerung, Gleichberechtigung von Mann und Frau.“ Werte, für die andere Menschen ihr Leben riskierten. „Also liebe Sachsen, denkt positiv, seht eure Chancen, löst die Probleme – und habt dadurch ein glücklicheres Leben! Seid euch bewusst, dass wir allein schon durch unsere Geburt in Deutschland ein Lebensglück hatten, zu dem wir nichts beigetragen haben.“

Bis zum 9. November erzählen mehr als 30 Sachsen, wie sie über das wiedervereinigte Deutschland denken. "30 Jahre - 30 Köpfe", die Videoserie finden Sie hier.