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Dem Wasser folgte eine Welle der Solidarität

Zwei Nachbarn in Hagenwerder sahen 2010 die Flut heranrollen. Aber nur einer hatte einen Schutzengel.

Von Gabriela Lachnit
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Ralf und Sylvia Preuß sowie Christine Pohl (v.l.n.r) machten 2010 sehr unterschiedliche Fluterfahrungen.
Ralf und Sylvia Preuß sowie Christine Pohl (v.l.n.r) machten 2010 sehr unterschiedliche Fluterfahrungen. © André Schulze

In diesen Wochen schauen Sylvia Preuß und ihr Mann Ralf einmal mehr als sonst in Richtung Neiße und Pließnitz, wenn es - was derzeit eher selten ist -  heftig regnet. Das Ehepaar lebt etwa 300 Meter vom Grenzfluss entfernt im eigenen Haus in Hagenwerder. Genau zehn Jahre ist es her, als ein Schutzengel alle Hände über die Familie hielt.

Staudamm hält den Wassermassen nicht stand

Die Erinnerung ist noch da, "als ob es gestern gewesen wäre", sagt Sylvia Preuß. Als der Damm des Witka-Stausees in Polen nach tagelangen, heftigen Regenfällen am 7. August 2010 brach und damit eine gigantische Flutwelle auslöste, hatte das Paar unglaubliches Glück.

Die damals 18-jährige Tochter machte sich zum abendlichen Ausgehen zurecht.  Sie schaute aus dem Badfenster im ersten Stock und erstarrte. Eine Flutwelle rollte heran. Sie rief ihre Mutter. Die damals 40-Jährige und ihr Mann, damals 45, sahen das Unheil kommen und reagierten nach kurzer Verwirrung. Sie schnappten alle wichtigen Akten und Dokumente und brachten sie nach oben. Dann fuhr die Familie samt Katze nach Weinhübel zu Sylvia Preuß' Mutter. Dort konnten sie aber nicht bleiben. Die Polizei forderte alle Menschen auf, sich in Sicherheit zu bringen, weil das Wasser kam. Sie fanden schließlich Unterschlupf bei einer Freundin in Melaune.

Bei Christine Pohl machte das Wasser nicht am Gartenzaun Halt. Es floss in jede Ritze des schwellenlosen Hauses, stand etwa 30 bis 40 Zentimeter hoch.
Bei Christine Pohl machte das Wasser nicht am Gartenzaun Halt. Es floss in jede Ritze des schwellenlosen Hauses, stand etwa 30 bis 40 Zentimeter hoch. © André Schulze

Mann im Rollstuhl ins Auto gedrängt

Christine Pohl und ihr Mann Gerd wohnen nur zwei Häuser weiter als Familie Preuß. "Als ich über die Wiese schaute, schwammen dort Mülltonnen, Äste, Spielzeug, es kam eine Flutwelle", erinnert sich Christine Pohl. Nichts wie weg hier, war ihr Gedanke. Sie sammelte  die nötigsten Papiere ein, etwas Wechselwäsche und ihren Mann, drängte ihn ins Auto und fuhr nach Görlitz. Gerd Pohl saß schwer krank im Rollstuhl. Die heute 65-Jährige und ihr Mann entrannen dem Wasser mit Müh und Not. Sie kamen zunächst bei Verwandten unter.

Am nächsten Morgen schaute eine Bekannte von Familie Preuß in deren Haus nach, wie schlimm es ist. "Sie stand auf der trockenen Terrasse, im Haus war kein Wasser", erzählt Ralf Preuß. "Ich konnte es nicht glauben, ich hatte doch die Wassermassen in Hagenwerder und Weinhübel gesehen, stand selbst beim Helfen in hüfthohem Wasser", sagt er. Am Gartenzaun hatte das Hochwasser Halt gemacht. Familie Preuß' Haus steht etwa 40 Zentimeter höher als das von Christine Pohl. 

Die Frau hatte nicht so viel Glück. Das Wasser floss in alle Räume. "Es war alles hin", sagt Frau Pohl. Sie wusste zunächst nicht, wohin mit ihrem kranken Mann. "Zehn Tage nahm ihn ein Krankenhaus auf", erzählt die 65-Jährige. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den damaligen Oberbürgermeister Joachim Paulick. Mit seiner Unterstützung wurde vorübergehend ein Platz in einem Pflegeheim für Gerd Pohl gefunden. Nach fünf Monaten Leben im Heim und aus dem Koffer bei Geschwistern konnten Pohls wieder in ihr Haus einziehen. 2012 starb Gerd Pohl.

Schnelle Hilfe und viel Solidarität

Anfangs sei sie völlig überfordert gewesen, erinnert sich Christine Pohl. Doch sie hatte auch Glück im Unglück. "Am Sonnabend kam die Flut, am Montag war mein Versicherungsmann vor Ort, am Dienstag der Gutachter und am Mittwoch begannen die Arbeiten im Haus", erinnert sie sich.

Sie konnte dabei auf jede Menge nachbarschaftliche Hilfe zählen. Überhaupt seien das Wochen und Monate gewesen, in denen der nachbarschaftliche Zusammenhalt auf eine harte Probe gestellt wurde. "Die Probe wurde bestanden, glänzend sogar", sagen die drei Einwohner von Hagenwerder übereinstimmend. Die gegenseitige Hilfe sei überwältigend gewesen. Ein Solidaritätsgefühl ohnegleichen war da. 

Familie Preuß, die keinen Wasserschaden hatte, war für die Nachbarn zum Beispiel ein Anlaufpunkt zum Wäschewaschen. "Meine Maschine lief rund um die Uhr", erzählt Frau Preuß. In der ganzen Wohnung waren alle Steckdosen belegt: Nachbarn luden ihre Handys auf. Dass das möglich war, ist ihrer Eigeninitiative zu verdanken, denn der Stromversorger hatte auch Familie Preuß den Strom abgestellt. Erst nachdem ein Bekannter die Elektrik im Haus geprüft und festgestellt hatte, dass alles in Ordnung ist, durfte der Hausstromkasten wieder ans Netz.

Wie eine Springflut überwindet die Neiße am 7. August 2010 den Rad- und Fußgängerweg in Hagenwerder und schießt in den Friedhof des Görlitzer Ortsteils. 
Wie eine Springflut überwindet die Neiße am 7. August 2010 den Rad- und Fußgängerweg in Hagenwerder und schießt in den Friedhof des Görlitzer Ortsteils.  © Nikolai Schmidt
Durch die Flut zerstörte Gleise zwischen Hagenwerder und Weinhübel.
Durch die Flut zerstörte Gleise zwischen Hagenwerder und Weinhübel. © nikolaischmidt.de
Neißewiesen in Hagenwerder standen unter Wasser.
Neißewiesen in Hagenwerder standen unter Wasser. ©  Archiv/Pawel Sosnowski
Vier Wochen nach dem Neißehochwasser lagen noch immer riesige Berge von Sperrmüll an einem Zwischenlager in Hagenwerder. 
Vier Wochen nach dem Neißehochwasser lagen noch immer riesige Berge von Sperrmüll an einem Zwischenlager in Hagenwerder.  © Archiv: Jens Trenkler

Anderer Blick auf den Fluss

Heute schaut Christine Pohl nicht mit Angst auf die Wiesen zwischen Neiße, Pließnitz und ihrem Haus, "aber anders", erzählt sie. "Es war ja immer wieder mal Hochwasser, 2010 war es wegen des Staudammbruchs so schlimm", erklärt sie. Sonst wäre es ein normales Hochwasser gewesen.

Stiefkind Hagenwerder

Immer wieder ist die Katastrophe von  2010 ein Thema, wenn sich Menschen aus Hagenwerder treffen. Besonders jetzt, am zehnten Jahrestag, kommen Emotionen hoch. In Hagenwerder sind es auch solche, die man im Görlitzer Rathaus nicht gern hört. "Wir fühlen uns als Stadtteil von Görlitz abgehängt", erklärt Ralf Preuß. Die Frauen stimmen zu. "Als man nach der Flut bei uns erst begann, den Müll wegzuräumen, war es in Weinhübel schon wieder sauber", berichtet der Mann. Erst spät kam Unterstützung für diesen Stadtteil, der seit Mitte der 1990-er zu Görlitz gehört.

An der stiefmütterlichen Behandlung habe sich bis heute wenig geändert, meinen Familie Preuß und Christine Pohl. Sie denken dabei unter anderem an den "schönen Sportplatz, der für das Stadion der Freundschaft geopfert wurde". An das Sportzentrum, in dem die Halle lediglich neuen Fußboden braucht. Sie erzählen vom Jugendklub, der einst beliebter Treffpunkt war und leer steht. Sie denken an das Freibad, das aufgegeben werden musste. Sie vermissen beim Altstadtfest die Sonderbusse, die  nur nach Weinhübel, aber nicht bis Hagenwerder fahren und anderes mehr.

Vom einstigen Zusammenhalt der Menschen ist noch etwas da, wenngleich nur unter jenen Einwohnern, die schon 2010 in Hagenwerder lebten. "Mittlerweile sind viele Ältere gestorben oder im Pflegeheim, Jüngere zogen zu, darunter viele Polen. Hier fehlen Kontakte, der Zusammenhalt ist mit den Zugezogenen nicht mehr so wie früher", erklärt Ralf Preuß. Unter den Familien Preuß und Pohl aber schon.

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