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Es ist schmerzhaft, enttäuscht zu werden

Putins Krieg und die ostdeutsche Sicht: Das besondere Verhältnis zu Russland hat viel mit Gefühlen zu tun. Aber Gefühle können täuschen.

Von Karin Großmann
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Putinversteher oder Putinhasser - wie sieht es in Ostdeutschland aus?
Putinversteher oder Putinhasser - wie sieht es in Ostdeutschland aus? © AP

Wie schade, dass ich nicht vorher gestorben bin. Das sagte Ljudmila Ulitzkaja nach dem Überfall ihres Landes auf die Ukraine. Die 79-jährige Schriftstellerin wird regelmäßig als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt. Sie lebt in Moskau und gehört zu den kremlkritischen Künstlern. Gerade erschien ihr neuer Erzählband auf Deutsch.

Der bittere Satz der Autorin geht einem nahe. Vielleicht geht er einem im Osten besonders nahe? Kann sein. Sind Ostdeutsche deshalb Putin-Versteher, wie es jetzt heißt mit einem unüberhörbaren Ton der Verachtung? Gewiss nicht. Und gewiss kann eine Ministerpräsidentin auch dann bis drei zählen, wenn sie sich um eine Gasleitung kümmert. Sie hatte Gründe. Hinterher haben es immer alle besser gewusst. Und wer schon immer panische Angst hatte vor „dem Iwan“, muss sich nun aufs Mörderischste im Recht fühlen.

Doch es geht weniger um Gründe, Zahlen und Fakten, wenn man das besondere Verhältnis vieler Ostdeutscher zu Russland beschaut. Es geht um Gefühl. Um Erinnerung. Wie die Eltern vom lange zusammengesparten Schwarzmeerurlaub ein rotes Halstuch mitbrachten, als man selbst noch das blaue trug. Wie beim Schüleraustausch dieser Moskauer Junge mit dem verwegenen Haarschnitt ins Haus kam, der einen dann beim Gegenbesuch heimlich in die kirchkuppelreiche Stadt Sagorsk fuhr. Wie die diensthabende Kopftuchträgerin im Leningrader Hotelflur Tag und Nacht Tee aus dem Samowar zauberte, als brauchte sie nie zu schlafen. Oma erzählt vom Frieden.

Mancher, der in der DDR aufwuchs, könnte ähnlich erzählen. Hat vielleicht beim Freundschaftstreffen Zigaretten mit der Bruderarmee getauscht. Hat bei Lomonossow studiert, was hilfreich war für die Karriere. Hat eine Schallplatte von Tom Jones eingeschmuggelt, She’s a Lady mit kyrillischen Buchstaben. Jugend ist meist mit positiven Emotionen besetzt.

Durch Glasnost und Perestroika verstärkte sich die Beziehung noch. Gorbatschows Ermunterung zu Offenheit und Umgestaltung fiel in Ostdeutschland auf einen Boden, der längst bereitet war. Dazu hatten Filme und Theaterstücke beigetragen und Schriftsteller wie Rasputin, Schukschin, Trifonow, Aitmatow, Granin. In ihren Büchern machten sie gesellschaftliche Konflikte öffentlich, die hier nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert werden konnten. Mancher Film kam gar nicht erst in die Kinos. Und wie groß war die Empörung, als 1988 die Zeitschrift Sputnik eingestellt wurde. Sie bringe keinen Beitrag, der der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft diene, stattdessen verzerrende Beiträge zur Geschichte. So die Begründung des Verbots.

Als die Mauer gefallen war, erwiesen sich all diese Erfahrungen als vorteilhaft. Ostdeutsche stolperten seltener über russische Namen, und sie wunderten sich auch nicht, dass ein und derselbe Mann Sascha und Alexander heißen kann. Neubundeslandsleute besaßen damals nicht viele Vorteile gegenüber Altbundesländlern. Kein Wunder, dass sie das kleine Überlegenheitsgefühl pflegten und die Kontakte zu eben noch besten Freunden. Man konnte Verlusterfahrungen miteinander teilen: Heimatverlust, Bedeutungsverlust, Überzeugungsverlust. Das verbindet. Auch im Misstrauen gegen die USA-Regierung konnte man sich leicht einigen.

So können Sie helfen:

In einer Umfrage von 2018 sprachen sich 72 Prozent der Ostdeutschen für eine Annäherung der Bundesrepublik an Russland aus, aber nur 54 Prozent der Westdeutschen. Für viele westlich der Mauer war Russland immer noch das stalinistische Reich des Bösen mit einem unberechenbaren Diktator und Sibirien nicht weit. Putin scheint sie zu bestätigen. Auf unfassbare, brutale Weise verletzt er das Völkerrecht. Die alte Blockpolitik, das verkrustete Freund-Feind-Schema, die brandgefährliche Hochrüstung, alles ist wieder da, seit Russen ihre Nachbarn bombardieren, zu denen auch Russen gehören. Der Westen antwortet mit politischen und wirtschaftlichen Sanktionen, mit Waffenlieferungen, Ausschlüssen, Absagen und Ultimaten im Minutentakt.

Manche ältere Ostdeutsche schwindelt es angesichts der Geschwindigkeit. Sind sie deshalb Putin-Versteher? Vielmehr wird sich mancher eingestehen müssen: Das Jugendbild trägt den Staub von Jahrzehnten. Es hat mit der heutigen russischen Realität längst nichts mehr zu tun. Und es war damals schon falsch, das private alltagskulturelle Bild als Teil fürs Ganze zu nehmen. Ein solches Eingeständnis tut weh. Es ist schmerzhaft, enttäuscht zu werden. Schmerzhafter ist es, zu begreifen, dass man sich selbst getäuscht hat. Es ist zum Heulen.

Alle Hoffnungen auf ein Nebeneinander, wenn schon nicht Miteinander, all die Hoffnungen nach dem Ende des Kalten Krieges: zerbrochen. Der Kalte Krieg ist in der Welt zurück. Er wurde in der Ukraine zum heißen Krieg. Man muss innig wünschen, dass er nicht in einen atomaren Krieg eskaliert. „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes“, sagt Ljudmila Ulitzkaja. „Die Verantwortung für das, was heute geschieht, tragen aber auch wir alle, die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht vorherzusehen und zu verhindern vermochten.“