Kliniken am Limit: "Werden es auch diesmal schaffen"
Peter Spieth leitet die Intensivstation der Dresdner Uniklinik. Ein Gespräch über den Alltag an der Überlastungsgrenze und den Sinn der Corona-Impfung.
Dresden. Die Zahl der Corona-Patienten hat ein kritisches Niveau erreicht. Ab Freitag gilt in Sachsen die sogenannte Überlastungsstufe. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat angesichts der dramatischen Lage einen "Wellenbrecher" gefordert. Neue Maßnahmen und vorübergehende Kontaktreduzierung soll dafür sorgen, das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren.
Wie ernst ist die Lage an den Kliniken wirklich? Peter Spieth ist Arzt und Leiter der Corona-Intensivstation am Uniklinikum Dresden. In der aktuellen Folge des CoronaCast bei Sächsische.de berichtet er eindrücklich aus seinem momentanen Alltag, die Überlebenschancen seiner Patienten - und die Impfung. Lesen Sie hier einen Auszug des Interviews.
Herr Spieth, ab Freitag gilt die Überlastungsstufe in Sachsen. Dem Begriff liegt ein Rechenmodell zugrunde, das mit einem Vorlauf von rund zwei Wochen die zu erwartende Lage an den Kliniken prognostiziert. Sie leiten die Intensivstation am Uniklinikum Dresden. Wie ist die Situation bei Ihnen?
Wir sind eine Intensivstation, auf der eigentlich Fälle aller Fachgebiete behandelt werden. Vor drei Wochen haben wir wieder angefangen, die Station schrittweise auf die Covid-Versorgung umzustellen, weil sich die Patientenzahlen kontinuierlich erhöht haben. Aktuell behandeln wir 20 Corona-Patienten. Alle werden beatmet, sechs von ihnen über ein Lungenersatzverfahren. Wir haben jetzt noch zehn freie Betten.
Also sind noch Kapazitäten vorhanden?
Das Problem sind gar nicht unbedingt die Betten, die man zur Verfügung hat. Davon haben wir eigentlich genug. Um diese Betten aber auch mit einer adäquaten, hochqualitativen Pflege betreiben zu können, ist ein enormer personeller Aufwand nötig. Und da ist es ab jetzt so, dass wir wirklich mit jedem neuen Patienten auch neue Pflegekräfte mobilisieren und Umverteilungen in der Klinik vornehmen müssen.
Heißt das, dass der normale Stationsbetrieb schon jetzt gar nicht mehr möglich ist?
Da gibt es Einschränkungen, wir haben viel heruntergefahren. Alles, was jetzt nicht unbedingt sofort behandelt werden muss, wird aufgeschoben, um Personal auf die Behandlung von Covid-Patienten umzulenken. Das komplette Klinikum können wir aber nicht einfach umstellen, weil wir auch für die Nicht-Corona-Patienten in der Region die Versorgung sicherstellen müssen.
In der Intensivmedizin gibt es bei uns zum Beispiel noch eine Station mit 30 Betten für operative Fälle. Und es gibt auch weiterhin eine internistische Intensivstation, die sich um die Patienten kümmert, die zwar wieder Corona-negativ sind, aber immer noch intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Kurzum: Auch trotz Corona müssen und werden wir weiterhin schwere Verkehrsunfälle, große Krebs-OPs oder Herzinfarkte und Schlaganfälle behandeln.
In Sachsen gibt es drei Klinik-Cluster: Dresden, Chemnitz und Leipzig. Dresden und Chemnitz sind schon seit Tagen über dem Grenzwert der Überlastung, Leipzig hält sich immer noch ein bisschen darunter. Nun ist das Wort Überlastungsstufe ein plastischer Begriff. Was passiert da gerade im Hintergrund?
Die Aufteilung in Cluster ermöglicht es uns, relativ präzise Vorhersagen treffen zu können. Insbesondere in der Intensivmedizin ist es so, dass wir anhand der in den Regionen aufgenommen Patienten relativ genau abschätzen können, wie viele davon in den nächsten 14 Tagen von Normalstationen auf Intensivstationen verlegt werden. Und wir sehen, wann in welchen Kliniken eine Leistungsgrenze erreicht sein wird. Es erwischt uns also nie komplett kalt, was bei der Planung von Ressourcen ein großer Vorteil ist. Damit dieses Frühwarnsystem so funktioniert, sind die Cluster im ständigen Austausch. Da läuft jeden Tag viel Kommunikation im Hintergrund.
Wenn nun eine Klinik ans Limit kommt, dann müssen Patienten verlegt werden. Stellt Sie das vor besondere Herausforderungen?
Die Uniklinik Dresden ist da in einer etwas spezielleren Situation als andere Häuser. Wir sind in unserem Cluster das Zentrum für die besonders schweren Fälle. Etwa 90 Prozent der Patienten auf unserer Corona-Intensivstation sind gar nicht über das Uniklinikum aufgenommen worden. Es ist also gängige Praxis, dass wir immer wieder Patienten mit schweren Krankheitsverläufen übernehmen. Dass Intensivpatienten aber aus Kapazitätsgründen zu uns abgegeben werden, das passiert noch relativ selten.
Fakt ist aber: Jeder Patienten, der aus anderen Kliniken zu uns kommt, macht wieder ein Bett in dem anderen Krankenhaus frei. Diese Umverteilungen fließen in die tägliche Bewertung der Lage in den Clustern ein.
Sind solche Transporte von Patienten mit schweren Verläufen nicht auch riskant? Und wie beurteilen Sie, dass jemand für eine Verlegung überhaupt infrage kommt?
Wenn beispielsweise ein Krankenhaus aus Kapazitätsgründen abgeben muss, dann sprechen wir mit den Kollegen vor Ort und wählen die Patienten aus, die am ehesten von der weiterführenden Therapie auf unserer spezialisierten Station profitieren würden. Das sind in aller Regel die jüngeren Patienten, die ohne relevante Vorerkrankungen eingeliefert wurden, bei denen sich aber besonders schwere Verlaufsformen entwickelt haben.
Weil jeder Transport für diese hoch kritischen Patienten eine Gefahr darstellt, versucht man die Transportwege möglichst niedrig zu halten. Das läuft bei uns in Sachsen in den Clustern, denke ich, noch sehr gut. Sollten wir in Sachsen jedoch an unsere tatsächliche Leistungsgrenze kommen, dann könnten wir es wie vergangenes Jahr machen und über das sogenannte Kleeblatt-Konzept auch Patienten in andere Bundesländer verlegen.
Nach dem Sommer und in dem Wissen darum, dass es inzwischen Impfstoffe gibt, hätten Sie gedacht, dass so eine Lage wie im Winter vergangenen Jahres noch mal möglich ist?
Corona war nie wirklich weg. Wir hatten einen Tag im August, wo wir auf unserer Station mal für vier Stunden keinen Patienten mit Lungenersatzverfahren behandeln mussten. Vier Stunden, an einem Tag, seit November 2020. Das ist jetzt ein Jahr Corona-Dauerbetrieb, wenn man so will. Es war eigentlich allen Leuten, die im intensivmedizinischen Bereich tätig sind, klar, dass im Herbst die Zahlen wieder steigen werden. Und was wir jetzt sehen, ist die Folge davon, dass wir keinen ausreichenden Impfschutz in der Bevölkerung haben.
Deckt sich diese Erkenntnis zum mangelnden Impfschutz mit Ihren Beobachtungen auf der Intensivstation?
In der Regel sind es die ungeimpften Patienten, die jetzt mit den schweren Verläufen bei uns intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Von den 20 Patienten im Moment auf unserer Station sind 19 ohne Impfschutz. Der eine geimpfte Patient hat unabhängig von seiner Covid-Diagnose schwere Grunderkrankungen, weshalb bei dieser Person die Immunantwort auf die Impfung wahrscheinlich nicht gut funktioniert hat. Solche Fälle gibt es.
Aber: Ansonsten gesunde und geimpfte Patienten, die sich trotz Schutz infizieren, haben in aller Regel keinen Verlauf, der bis auf die Intensivstation führt. Auch auf den Normalstationen ist der Anteil der Ungeimpften meist höher. Insofern muss man schon eine deutliche Empfehlung für das Impfen aussprechen. Das Impfen ist unsere einzige Chance, die Überlastungssituation in den Kliniken irgendwie bremsen können.
Die Impfung kann die Kliniken entlasten, schützt in erster Linie die Menschen aber vor den schweren Verläufen. Wenn jetzt 20 Personen auf ihrer Intensivstation liegen, wie viele von denen glauben Sie, werden es nicht überleben?
Bei der momentanen Konfiguration, also dem Status der Patienten nach, denke ich, dass ungefähr 35 bis 40 Prozent von ihnen es nicht schaffen wird. Etwas weniger als die Hälfte wird sterben.
Auf ihrem Weg über die Stationen in der Klinik bis hin zu Ihnen: Sprechen die Patienten auch manchmal über Ihre Gründe, sich nicht geimpft zu haben?
Wenn die Patienten bei uns ankommen, sind sie im künstlichen Koma und werden invasiv beatmet. Wir bekommen also kein direktes Feedback von den Patienten. Bei uns melden sich jetzt Patienten, die wir in der zweiten Welle behandelt haben, die nach drei Monaten Krankenhausaufenthalt und bis zu sechs Monate Reha jetzt langsam wieder nach Hause kommen. Das sind alles Patienten, die ihre Erkrankung noch vor der Möglichkeit zur Impfung durchgemacht haben. Ich bin gespannt drauf, muss ich wirklich sagen, wie Menschen, die sich nicht geimpft haben und dann einen schweren Verlauf genommen haben, wie die im Nachgang ihre eigene Entscheidung einordnen.
Was glauben Sie, sind die Gründe für die geringe Impfbereitschaft in Teilen der Bevölkerung?
Es gibt ja ganz unterschiedliche Gründe, sich nicht impfen zu lassen. Das fängt bei ganz einfachen Dingen an. Es gibt wirklich Menschen, die haben einfach Angst vor der Nadel. Und es gibt Leute, die aus irgendwelchen anderen Gründen entweder nicht an die Wirksamkeit der Impfung glauben oder Angst vor schwerwiegenden Folgen haben. Es geistert einfach viel Fehlinformationen durch die Medienlandschaft. Also ich kann mir schon vorstellen, dass es im Nachgang viele Menschen geben wird, die sagen: 'Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich impfen lassen.'
Umgedreht muss man aber auch sagen, dass wir auch heute, anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie Anrufe von Angehörigen bekommen, die glauben, dass das mit Corona ja alles Quatsch sei und ihr Angehöriger ja wahrscheinlich irgendwas anderes habe.
Also noch während ein Patient auf der Intensivstation um sein Leben ringt, bezweifeln Angehörige, dass er tatsächlich krank ist?
Ja, zumindest, dass die schwere Erkrankung nicht auf die Corona-Infektion zurückzuführen ist. Das erleben wir durchaus - und nicht selten. Wir machen bei der Behandlung natürlich keinen Unterschied, ob der Patient geimpft ist oder nicht. Wir machen auch keinen Unterschied, ob ein Patient, der nach einem Verkehrsunfall zu uns kommt, der Verursacher oder das Opfer ist. Das liegt an anderer Stelle über solche Dinge moralisch zu urteilen. Trotzdem sind wir als medizinisches Personal natürlich alles Menschen. Da schwingen solche Erlebnisse dann schon mit.
Worauf ich hinauswill, ist: Wenn sich mehr Leute impfen lassen würden, hätten wir hier ein deutlich einfacheres Leben in den Kliniken. Wir müssten viele Einschränkungen, die unsere Mitarbeiter auch ganz persönlich betreffen, so nicht vornehmen. Von daher kann ich es nachvollziehen, dass es manchmal für die Kolleginnen und Kollegen schwer nachvollziehbar ist, wenn sich Menschen nicht impfen lassen. Und wenn dann noch Angehörige anrufen, die die gesamte Corona-Erkrankung in Zweifel ziehen, ist das zusätzlich belastend. Erst recht, wenn man seit anderthalb Jahren jeden Tag alles gibt und so viele Patienten hat sterben sehen.
Unabhängig vom Impfstatus - ist in dieser vierten Welle noch etwas anderes auffällig?
Das Alter der Patienten. Während in der zweiten und dritten Welle die Intensivpatienten im Schnitt 75 Jahre alt waren, sind sie jetzt durchschnittlich 55. Weil viele der eher jüngeren Patienten meist keine relevanten Vorerkrankungen haben, können sie der Infektion länger etwas entgegen setzen. Ihre Verläufe sind oft länger. Aber auch von denen sterben trotzdem immer noch relativ viele, muss man sagen. Es ist leider eine Fehleinschätzung vorwiegend jüngerer Menschen, dass sie das Risiko eines schweren bis tödlichen Verlaufs für sich ausschließen.
Wir haben jetzt Mitte November. Das heißt, es ist noch relativ früh in dieser Herbst/Winter-Saison. In der Pandemie sind Vorhersagen immer schwierig. Dennoch die Frage: Was ist Ihre Prognose, Befürchtung, vielleicht aber auch Hoffnung für die nächsten Wochen?
Ich verlasse mich zu einem großen Teil auf unsere Prognosetools, weil die uns bisher immer ziemlich gute Vorhersagen gegeben haben. Demnach denke ich, werden wir noch eine weitere Zunahme sehen. Wir sind noch lange nicht am Peak der vierten Welle angelangt. Aber aus den Erfahrungen der letzten Wellen glaube ich schon, dass wir das auch wieder gemeistert kriegen. Wir werden es schaffen! Es ist nur eine Frage, wie viel Aufwand wir dafür betreiben und wie viele Ressourcen wir umverteilen müssen, um die um den Herausforderungen gerecht zu werden. Es ist eine immense Anstrengung, die dahinter steht.
Aber steht das Personal noch eine solche Welle durch?
Wir hatten auch Kolleginnen und Kollegen, die die Station verlassen haben. Aber es waren nicht so wahnsinnig viel mehr als in anderen Jahren. Optimistisch stimmt mich, dass die Motivation bei der Stammbesetzung nach wie vor hoch ist. Wir merken aber, dass die Leute über die Zeit einfach auch müde geworden sind. Bei der zweiten oder dritten Welle war noch mehr Energie da. Natürlich ist die Pandemie auf die Dauer zermürbend.
Was kann jetzt die Lage entspannen?
Klar ist, eine Entspannung wird nur möglich sein, wenn der Zustrom neuer Patienten nachlässt. Ich bin glücklicherweise kein Politiker und muss nicht über Kontaktbeschränkungen, Lockdowns oder das Impfen entscheiden. Aus meiner Sicht ist es jedoch nicht verantwortlich, dass sich Ungeimpfte in größeren Gruppen treffen. Denn überwiegend aus dieser Gruppe sind es eben jene Menschen, die zwei Wochen später ins Krankenhaus kommen und schlimmstenfalls nach vier Wochen auf der Intensivstation liegen.
Es ist für mich auch nur schwer nachvollziehbar, warum in Regionen, wo jeder jemanden kennt, der an Corona verstorben ist, es immer noch so viele Leute gibt, die sich nicht impfen lassen und die auch die allgemeinen Maßnahmen nicht umsetzen. Abstandsregeln, das Tragen von Masken - das ist das kleine Einmaleins. Solange das nicht funktioniert, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Infektion weiter hoch bleiben.
Über den Podcast: Die Fragen und Antworten sind ein Auszug aus der am 16. November erschienen Folge des CoronaCast. Der Podcast von Sächsische.de erscheint regelmäßig und informiert über die aktuelle Lage in Sachsen und Deutschland. Die komplette Folge hören Sie über den hier eingebetteten Player.