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Geiselnahme in Dresden: "Das müssen wir erst einmal wegstecken"

Noch ist vieles zum Hintergrund der dramatischen Geiselnahme in Dresden offen. Die Staatsanwaltschaft hat am Montag erste Erkenntnisse zum Täter bekannt gegeben. In Prohlis wird um die 62-jährige Mutter von David W. getrauert.

Von Franziska Klemenz & Sandro Pohl-Rahrisch & Alexander Schneider & Juliane Just
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Vor der Wohnung der 62-Jährigen, die am Samstag mutmaßlich von ihrem eigenen Sohn getötet wurde, liegen Grabkerzen, Rosen und Nelken. Wie konnte es so weit kommen?
Vor der Wohnung der 62-Jährigen, die am Samstag mutmaßlich von ihrem eigenen Sohn getötet wurde, liegen Grabkerzen, Rosen und Nelken. Wie konnte es so weit kommen? © SZ/Franziska Klemenz

Dresden. Prohlis am Montagnachmittag. Zwei Tage ist es her, dass Kerstin W. zum letzten Mal in der Finsterwalder Straße aufgewacht ist. Grabkerzen, Rosen und Nelken sammeln sich zwischen frisch gefallenem Schnee und der aquamarinfarbenen Tür des Plattenbaus, in dessen obersten Geschoss die 62-Jährige wohnte. In die Scheibe des Eingangs haben Freunde ein Foto im Din-A4-Format von ihr geklebt. Kerstin W. mit Krone und Faschingskostüm, lachend, im Hintergrund Luftballons. "Ein fröhlicher Mensch musste von uns gehen", steht in schlichten weißen Lettern darauf.

Kerstin W. wurde am Sonnabendmorgen erschossen. Mutmaßlich von ihrem eigenen Sohn, der anschließend versucht hatte, in einen Radio-Sender einzudringen und sich anschließend in der Altmarktgalerie als Geiselnehmer bei der Polizei meldete. Der 40-jährige David W. soll psychisch krank gewesen sein. Er hatte neben einer Drogeriemarkt-Mitarbeiterin (38) schon länger einen neunjährigen Jungen in seiner Gewalt, der bei Kerstin W. gewesen sein soll.

Einige Nachbarn kannten die 62-Jährige so gut, dass es ihnen jetzt schwerfällt, überhaupt von ihr zu sprechen. "Es ist zu frisch, ich weiß noch gar nicht, wie ich das verdauen soll", sagt eine Freundin, die zwei Stockwerke unter Kerstin W. wohnt. "Sowas kennt man nur aus dem Fernsehen, sie war immer so freundlich, jetzt wurde ihr so etwas Schlimmes angetan, und das in der besinnlichen Zeit", sagt ein anderer Nachbar. "Das müssen wir erstmal wegstecken."

Pistolenschuss war als dumpfes Geräusch zu hören

Ein Mann, der erst seit kürzerem in dem Haus wohnt, hörte zwei Tage vor der Tat Geräusche aus W.s Wohnung: "Jemand hat jemanden gestoßen und etwas runtergeschmissen, eine Tasse und sowas. Es war nicht normal."

Als David W. seiner Mutter mutmaßlich in den Kopf geschossen hat, schliefen die meisten im Haus noch. Der Mieter unter Kerstin W.s Wohnung trägt Ohrstöpsel zum Schlafen, hörte nur ein dumpfes Geräusch, das wohl der tödliche Schuss in Kerstin W.s Kopf war. "Die Leute hier in der Gegend haben ja die Angewohnheit, hier schon vier, fünf Wochen vor Silvester die ganzen Knaller loszulassen - wenn es dann früh um sechs knallt, kannst du nicht einordnen, was es ist. Hat jemand einen Blitzknaller aus dem Fenster geworfen?", sagt er. "Dass da vielleicht mal ein Pistolenschuss dabei ist, fünf bis sechs Meter Luftlinie von der eigenen Wohnung, hätte ich nicht gedacht." Minuten später sei der nächste Böller im Hof hochgegangen.

Als herzlichen, munteren Menschen beschreiben die meisten Nachbarn Kerstin W. Thomas und seine zwei Katzen haben direkt neben ihr gewohnt. Meistens flüchten seine Tiere, wenn Menschen kommen. Nicht bei Kerstin W. "Sie war immer da für die Katzen, wenn ich in Urlaub gefahren bin", sagt er. "Sie war so lebensfroh und lustig." Im Prohliser Chor hat Kerstin W. gesungen, sei "von früh bis abends mit dem Fahrrad unterwegs" gewesen. "Ich kann gar nicht glauben, dass sie jetzt nicht mehr da ist."

Kriminalistische Aufarbeitung der Tat hat begonnen

Die Wohnung der toten Frau ist noch doppelt von der Polizei versiegelt. Vor der Tür liegen Holzsplitter, wohl vom Eindringen der Polizei am Samstagmorgen. Ein paar große und ein paar Kinderschuhe stapeln sich vor Kerstin W.s Wohnung. Die kleinen stammen wohl von einem Enkel der 62-Jährigen.

Für die Ermittler im Fall der Geiselnahme von Dresden beginnt nun die kriminalistische Aufarbeitung der Tatumstände. Die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft Dresden geführt, die am Montagnachmittag erste Details bekannt gegeben hat. Demnach gehen die Ermittler Hinweisen nach, wonach der 40-jährige Geiselnehmer weitere Menschen in der Dresdner Innenstadt bedroht haben soll.

Ermittlungsgegenstand ist darüber hinaus die Pistole, die der Mann bei sich hatte. Dabei muss unter anderem geklärt werden, ob der Täter seine Waffe legal besitzen durfte oder wie er an diese gelangte. "Die Waffe befand sich nach derzeitigem Ermittlungsstand nicht legal im Besitz des Beschuldigten", so Staatsanwaltschaft und Polizei. "Die gerichtsmedizinische Untersuchung an der verstorbenen Mutter des Beschuldigten hat ergeben, dass diese infolge eines Kopfschusses verstarb."

Der verstorbene Beschuldigte sei geringfügig und nicht einschlägig vorbestraft gewesen. Zuletzt wurde er im Jahr 2016 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt. Seitdem hat er sich straffrei geführt und stand weder unter Bewährung noch unter Führungsaufsicht.

David W. lebte zurückgezogen

David W. ist in Heidenau aufgewachsen und zur Schule gegangen, früheren Mitschülern zufolge ist er 1988 an der Polytechnischen Oberschule in Heidenau-Mügeln eingeschult worden. Als sie von der Tat erfahren, reagieren sie erschüttert, haben sie mit W. doch erst vor wenigen Jahren gesellige Stunden verbracht.

"Echt jetzt? Beim letzten Klassentreffen habe ich mit ihm noch gequatscht und mit ihm ein Schnaps getrunken", sagt ein früherer Mitschüler. "Einfach nur der Wahnsinn." W.s Tat sei "entsetzlich", der Gedanke "ein komisches Gefühl", dass ein früherer Mitschüler so handeln, so aus dem Leben gehen würde.

Auf Facebook hat David W. vor allem Petitionen, Artikel oder Spendenaktionen geteilt, die sich für eine gerechtere, umweltbewusstere Welt einsetzen. Gegen hungernde Kinder, gegen die verlängerte Zulassung des Insektengifts Glyphosat, gegen Tierversuche und tierquälerische Zustände auf Schlachthöfen. Ihm gefallen auf Facebook Seiten wie "Ärzte gegen Tierversuche" und "Recycling Guru".

In der Gegend im Ortsteil Mügeln, in der W. wohnte, können die wenigsten etwas über ihn sagen. Der 40-Jährige hat wohl eher zurückgezogen gelebt. Auf Instagram ist ihm niemand gefolgt und auch er niemandem.

Mitte Oktober dieses Jahres gab es einen Einsatz von Rettungsdienst und Polizei in Heidenau, der für die psychischen Probleme des 40-Jährigen sprechen könnte. Anlass sei ein "Vorfall" gewesen, wie die Polizei auf Anfrage bestätigte, aber nicht näher beschrieb. Danach hatte ein Zeuge mittags die Polizei alarmiert. Im Anschluss sei der 40-Jährige in eine psychiatrische Einrichtung gebracht worden.

Untersucht wird außerdem der Schusswaffeneinsatz der Polizei bei der Befreiung der Geiseln, der zur Tötung des Beschuldigten führte. Weitere Angaben seien derzeit nicht möglich. Die Aufarbeitung des Einsatzes und die Ermittlungen würden noch einige Zeit in Anspruch nehmen, heißt es.

Motiv ist weiter unklar

Der bewaffnete Mann im Alter von 40 Jahren hatte am Samstagvormittag in Dresden für Angst und Schrecken gesorgt und einen Großeinsatz der Polizei ausgelöst. Beim Zugriff durch Spezialkräfte konnte der Deutsche am Mittag überwältigt werden. Er starb wenig später an den dabei erlittenen Verletzungen. Die Polizei geht davon aus, dass er psychisch krank war. Was den 40-Jährigen zu den Verbrechen trieb, ist bislang unklar.

Nach den bisherigen Erkenntnissen hatte der Mann am Morgen zunächst seine 62 Jahre alte Mutter in einem Wohnhaus im Stadtteil Prohlis getötet. Danach versuchte er, in der Innenstadt mit Waffengewalt beim Sender Radio Dresden einzudringen, und gab dabei Schüsse ab. Bei dieser Tat hatte er bereits das neunjährige Kind einer Bekannten dabei. Später verschanzte er sich mit dem Kind in der Altmarkt-Galerie und nahm dort in einem Büroraum auch eine 38-jährige Angestellte als Geisel.

Die Polizei hatte nach eigenen Angaben zunächst versucht, den Täter zum Aufgeben zu bewegen. Als herbeigerufene Spezialkräfte des Landeskriminalamtes in dem Büro Schussgeräusche hörten, stürmten sie den Raum und verletzten dabei den Täter schwer. Er starb wenig später. Die Geiseln blieben unverletzt.

Gegen den Geiselnehmer läuft ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Totschlags, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Ungeachtet dessen, dass er inzwischen verstorben ist. Dabei sollen auch alle Hintergründe der Tat aufgeklärt werden.

Innenminister lobt Zusammenarbeit der Einsatzkräfte

Bei einer Festveranstaltung der Polizei in Leipzig bedankte sich Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) am Montag nochmals für die gute Arbeit der Polizeibeamten am Samstag in Dresden: "Der Fall vom Samstag zeigt deutlich, wie sehr der Freistaat eine starke und gut ausgebildete Polizei benötigt, um in brenzligen Situationen schnellstmöglich eingreifen zu können."

Schuster betonte dabei die gute Zusammenarbeit der einzelnen Einheiten vor Ort, auch mit dem Spezialeinsatzkommando und der Verhandlungsgruppe, die zum großen Teil erst aus Leipzig anrücken mussten, um in Dresden eingreifen zu können. "Die Arbeit aller Beteiligten zum Erfolg des Einsatzes, in dieser Geschwindigkeit sei aller Ehren wert - auch wenn es schwierig ist, von Erfolg zu sprechen, wenn zwei Menschen sterben", so Schuster.