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Das AfD-Debakel im Görlitzer Stadtrat

Bei der ersten Haushaltsdebatte nach der Kommunalwahl wollte die AfD als größte Fraktion die Stadtpolitik drastisch verändern. Am Ende steht sie mit leeren Händen da.

Von Sebastian Beutler
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Gescheitert mit seiner Strategie im Stadtrat: AfD-Fraktionsvorsitzender Lutz Jankus.
Gescheitert mit seiner Strategie im Stadtrat: AfD-Fraktionsvorsitzender Lutz Jankus. © Archivfoto: Pawel Sosnowski

Der Freitag hat soeben begonnen. Es ist drei Minuten nach Mitternacht. 20 Stadträte von CDU, Bürger für Görlitz, Grüne, SPD und Motor Görlitz haben gerade den Haushalt für die Jahre 2021 und 2022 verabschiedet. 20 zu 15 heißt es am Ende für den Etat. Trotz aller Sorgen, aller Probleme, aller offenen Fragen. Glücklich ist kaum einer über das Zahlenwerk, aber der Beschluss sichert, dass es weitergeht, wichtige Investitionen fortgesetzt oder begonnen werden können.

Da sucht Lutz Jankus, der AfD-Fraktionsvorsitzende, doch noch mal das Mikro und macht sich seinem Ärger Luft. Er habe dem Haushalt nicht zustimmen können, weil er für ein "Weiter so" in die Zahlungsunfähigkeit der Stadt stehe. Am liebsten würde er noch mal eine Rede halten, erklären, was die Alternative für Deutschland als Alternative für Görlitz sieht. Doch weder haben die Stadträte nach acht Stunden Sitzung einen Nerv dafür noch will Oberbürgermeister Octavian Ursu diese Marathonsitzung verlängert sehen. Auf seine Intervention hin räumt Jankus dann doch das Feld, von dem seine Fraktion, die größte im Rat, als Geschlagene in die Nacht geht.

Es steht viel auf dem Spiel

Fast acht Stunden zuvor hatte CDU-Fraktionsvorsitzender Dieter Gleisberg schon eine Vorstellung von dem, was alle erwartet. "Haben Sie Zeit mitgebracht", frotzelt er zur dünn besetzten Besuchertribüne in der Schenckendorff-Turnhalle hinauf. Haushalt ist kein Thema, das die Massen bewegt. Nur zwei Bürger hatten im Rathaus nach der Einsicht in das Zahlenwerk Hinweise hinterlassen. Und auch am Donnerstag kommt kaum einer vorbei. Wer will, macht es sich am heimischen Computer bequem, übers Internet wird die Sitzung wie immer übertragen.

Alle wissen schon zu Beginn der entscheidenden Beratung, dass viel auf dem Spiel steht. Für die Stadt geht es um die Ausrichtung in den beiden Jahren und darüber hinaus, die Fraktionen wollen zudem Vorhaben verankert sehen, die sie für wichtig empfinden. Es ist der erste Haushalt nach der Kommunalwahl. Es geht um eine Richtungsentscheidung: in welcher Stadt wollen die Görlitzer leben?

Ob daraus ein Gesamtwerk entstehen kann, das am Ende eine Mehrheit findet, ist zwar seit dem Vortag wahrscheinlicher geworden. Da stellte OB Ursu seinen Kompromissvorschlag für die neue Oberschule im Verwaltungsausschuss vor: Über 30 Millionen Euro werden als Einnahme eingestellt in den Finanzplan bis 2025, obwohl kein müder Euro dieses Geldes derzeit in der Kasse ist. Auch bei anderen Themen gibt es Annäherungen zwischen CDU/Bürgerfraktion und Motor/Grüne. Doch bleibt der Ausgang bis zuletzt offen. Es gibt viele Knackpunkte.

Die Stadthalle ist erwartungsgemäß ein solcher. OB Ursu verteidigt in seiner Haushaltsrede dieses Projekt als einmalige Chance, "ein internationales Konferenzzentrum zu etablieren". Er spricht nicht von einem Konzerthaus, von nostalgischen Erinnerungen, wie sie Mirko Schultze von der Linken als Argumente für die Rückwärtsgewandtheit aller Stadthallenanhänger verwendet, sondern der Görlitzer Oberbürgermeister rückt die Stadthalle in eine Reihe der großen städtischen Wirtschaftsprojekte, als Zukunftsvorhaben. "Wir müssen auch in schwieriger Lage weiter in unsere Infrastruktur investieren, sie nicht abbauen." Ähnliches klingt bei der Fraktionsvorsitzenden der Bürgerfraktion, Yvonne Reich, an, wenn sie "von einer Halle für alle" spricht und die Stadt als Film-, Bau-, Kultur- und Forscherstadt versteht.

Von diesen Chancen sieht Mirko Schultze von der Linken nichts, vielmehr fürchtet er "dass Familien und junge Leute das Ding ausbaden müssen". Doch Schultze steht mit dieser Meinung genauso allein da wie Jana Krauß, die den Antrag einbringt, die Stadthallensanierung zu stoppen. 28 Stadträte halten aber an dem Projekt fest: CDU, Bürger für Görlitz, SPD, der bündnisgrüne Stadtrat Joachim Schulze, Jens Jäschke und die AfD. Nur Motor Görlitz, zwei weitere bündnisgrüne Stadträte und die drei von der Linkspartei lehnen sie ab - insgesamt sind es acht Nein-Stimmen. Und es ist gegen 19.45 Uhr.

Abstimmungsmarathon bis Mitternacht

Wer geglaubt hatte, nun sei das Schwierigste vom Tisch, wird von der AfD eines Besseren belehrt. Die Partei hat über 30 Vorschläge zusammengetragen, um zusätzlich zu höherer Gewerbe- und Hundesteuer und Kita-Gebühren, die bereits im Etatentwurf verankert sind, weitere 1,6 Millionen Euro mehr einzunehmen und 1,2 Millionen Euro einzusparen. Gelder, die Bürger zahlen müssen oder auf die sie verzichten sollen. Dabei hatte AfD-Stadtrat Sebastian Wippel in seiner Rede bereits davon gesprochen, dass "die Leistungsträger mit diesem Haushalt zur Kasse gebeten werden". Doch seine Fraktion will diese Belastung noch weiter verstärken. In der Sprache Wippels heißt das: konsolidieren und umverteilen. Das Ziel der AfD: Sie will die Kita-Gebühren-Erhöhung, die der Stadtrat erst jüngst beschlossen hatte, wieder kippen. Aber anders als ihre Einsparvorschläge legt sie einen Antrag zur Rücknahme des Kita-Grundsatzbeschlusses nicht vor.

Die AfD informierte Verwaltung und Stadtrat nur 24 Stunden vor der Stadtratssitzung über ihre Vorschläge. Deren Fülle und die Kurzfristigkeit reicht den anderen Fraktionen, um der AfD pure Show vorzuwerfen. Wenn es die größte Fraktion ernst mit einer Zusammenarbeit gemeint hätte, so der Tenor der anderen, dann hätte sie ähnlich frühzeitig wie sie ihre Vorschläge veröffentlicht, sodass auch Zeit für Prüfung und Rückfrage in den Fachämtern sowie Beratung bestanden hätte.

Dass dieser Vorwurf nicht ganz von der Hand zu weisen ist, illustrieren dann auch die Begründungen der Vorschläge durch Sebastian Wippel. Dem Görlitzer Museum rät er, Ausstellungen mit weniger Technik und damit billiger zu gestalten, beim Straßentheaterfestival Viathea kann er sich gut vorstellen, dass auch Gruppen kostenlos auftreten würden, die Kürzungen für den Betrieb der BMX-Strecke des Adrenalin-Vereins könnte man kompensieren, indem man für ein Bier mal einen Euro mehr zahlt und der Kulturservice solle ebenso seine Veranstaltungen "schlanker" organisieren. Wie sinnvoll diese Vorschläge sind, welche Auswirkungen sie im Detail haben, kann an dem Abend niemand überprüfen.

AfD-Strategie scheitert

Es ist diese erschreckende Gleichgültigkeit über die Folgen, die aus diesen Worten des einstigen OB-Kandidaten spricht, die nicht nur die Seriosität der Vorschläge in den Augen der anderen Fraktionen infrage stellt, sondern sie eint wie nie zuvor: so nicht. Und so lehnen sie ohne große Diskussion alle Vorschläge der AfD-Fraktion ab, die auch auf eine andere Stadt zielten: weniger Geld für Theater, für Museum und Kulturservice und damit die großen Feste der Stadt, für das Straßentheaterfestival Viathea, für die Volkshochschule, das Helenenbad, für die Kinder- und Jugendarbeit, für die internationale Zusammenarbeit, für Klimabilanzen, für den Kleingärtnerverband und für das soziokulturelle Zentrum Werk 1.

Manches, wofür jetzt einfach die Prüfung fehlte, wird vielleicht in den nächsten Monaten wieder von anderen oder der AfD selbst erneut aufgegriffen. Die Spielapparatesteuer ist seit 2008 nicht mehr erhöht worden, doch muss zuvor geprüft werden, bis wohin rechtlich die Schraube angezogen werden kann. Auch die Mieten und Pachten für städtische Garagen scheinen ausgesprochen preiswert zu sein. Bei anderen Vorschlägen der AfD wie die Sanierung des Bismarckturms auf der Landeskrone oder der Stadtmauer an der Altstadtbrücke zeigen die Enthaltungen in der CDU-Fraktion, dass die Anliegen der AfD auch andere bewegen.

Doch weil die AfD-Einsparungen allesamt abgelehnt werden, steht die Fraktion schließlich mit leeren Händen da, als sie Mehrausgaben vorschlägt. Das aber ist haushaltsrechtlich nicht zulässig. So werden nicht nur die sechs zusätzlichen Stellen fürs Ordnungsamt, eine Erhöhung des Zuschusses an die Europastadt Görlitz/Zgorzelec und Gelder für den Bau eines großen Parkplatzes am Nordoststrand am Berzdorfer See abgelehnt, sondern auch Mittel für die Sanierung der Sanitärräume in der Turnhalle Kunnerwitzer Straße sowie für einen neuen Kunstrasenplatz auf dem Sportplatz Biesnitz.

Als kurz darauf CDU und Bürgerfraktion aber ebenso Gelder für die Turnhalle Kunnerwitzer Straße und für den Kunstrasenplatz beantragen und das mit Gegenfinanzierungen im Haushalt untermauern können, da stimmt der Stadtrat einstimmig oder mit nur einer Gegenstimme dafür.

Und als schließlich Motor Görlitz/Bündnisgrüne zusätzliche Gelder für die Spielplätze vorschlägt, ihre Gegenfinanzierung aber brüchig erscheint, hilft sogar Kämmerin Birgit Peschel-Martin, dass schließlich genug Geld im Etat zusammenkommt. Da staunt dann AfD-Stadtrat Torsten Koschinka, "wie es gehen kann, wenn die Vorschläge aus der richtigen Richtung kommen". Es sind aber auch Beispiele für ein anderes Verständnis von Arbeit im Stadtrat: mit Vorschlägen rechtzeitig auf Verwaltung und Stadtrat zugehen und gemeinsam nach Lösungen suchen. An diesem Abend gibt das den Ausschlag. Die Spielplätze sind das letzte Puzzleteil für Motor Görlitz/Bündnisgrüne, den Haushalt nicht abzulehnen.

Mehrheit verteidigt ihre Stadt gegen die AfD

Die AfD aber steht damit komplett brüskiert da. Kein einziger ihrer Vorschläge kam durch. Selbst wo sie Anliegen durchbrachte, stimmte sie nur auf Vorschlag anderer zu. Es hätte ihrer Stimmen gar nicht bedurft. So überflüssig war eine größte Fraktion im Görlitzer Stadtrat schon lange nicht mehr. Das nervt die Sprecher der Fraktion zusehends, die mit ihren Vorschlägen die Sitzung zum Mitternachtsdrama gestaltete. Je mehr ihre Vorschläge durchfallen, umso mehr flüchten sie sich in Sarkasmus wie Torsten Koschinka oder versuchen wie Sebastian Wippel zu provozieren, um die anderen aus der Reserve zu locken. Die aber ertragen stoisch Sozialismusvorwürfe, Verachtung und fehlende Wertschätzung oder gallige Kommentare der AfD.

Die Mehrheit will einfach keine Stadt, wie sie sich die AfD erträumt. Sie stehen für eine andere, für eine "familienfreundliche Mitmachtstadt", wie es Motor-Chef Mike Altmann sagt. Dabei steht dieser Haushalt auf unsicherem Fundament: Es gibt Luftbuchungen, Absichtserklärungen darin. „In normalen Zeiten“, so sagt OB Ursu schon gleich zu Beginn der Debatte, „hätte ich einen solchen Haushalt mit Kreditaufnahmen, genehmigungspflichtigen Teilen und einem Defizit nicht vorgelegt.“ Ob und unter welchen Bedingungen der Kreis das Zahlenwerk genehmigt, ist offen. Vielleicht müssen sich alle schneller als gedacht mit weiteren Einsparungen beschäftigen, auch denen der AfD. „Es sind aber“, wie Ursu sagt, „keine normalen Zeiten.“ An diesem Abend verteidigt eine Mehrheit ihre Vorstellung von Görlitz - auch nach acht Stunden.