Herr Brockmann, wie gefährlich leben E-Bike-Fahrer?
Fast jeder zweite im vergangenen Jahr auf Deutschlands Straßen ums Leben gekommene Radfahrer ist mit Elektrounterstützung unterwegs gewesen. Allein in Sachsen sind im vergangenen Jahr neun Menschen bei Unfällen mit ums Leben gekommen, fünf mehr als 2021.
Die Zahlen verwundern nicht so sehr, wenn man den massiven Trend hin zum Pedelec sieht, oder?
Richtig. Insofern ist klar, dass auch Unfall- und Opferzahlen steigen. Was wir aber nicht wissen, ist: Wie hat sich die Kilometerfahrleistung verändert?
Warum ist das wichtig?
Das ist die Bezugsgröße. Natürlich gehen wir davon aus, dass mit dem Pedelec größere Strecken zurückgelegt werden. Aktuelle, bundesweite Daten gibt es aber nicht. Deshalb müssen wir sagen: Es kann sein, dass sich die Unfallzahlen bei E-Bikes relativieren, wenn wir die Fahrleistung berücksichtigen. Ich glaube dennoch weiterhin an überproportionale Zahlen.
Lässt sich die These „E-Bike-Fahren ist im Vergleich zum normalen Fahrradfahren um den Faktor X gefährlicher“ in absehbarer Zeit belegen?
Mit der jeweiligen Fahrleistung als korrekter Bezugsgröße geht es nicht. Die entscheidende Datenquelle für Unfallforscher, eine bundesweite Erhebung zur Alltagsmobilität, wird nur alle paar Jahre, in unregelmäßigen Abständen, vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben. Die letzte „Mobil in Deutschland“-Studie gab es 2017, die nächste wird es mein Wissen nicht vor 2025 geben. Dann haben wir die frühesten Ergebnisse im Jahr 2026.
Was lässt sich dann jetzt überhaupt zu dem Thema sagen?
Trotz fehlender Bezugsgröße ist für mich klar: Selbst wenn mit Pedelecs deutlich weitere Strecken zurückgelegt werden und dieses Pensum berücksichtigt wird, ist das statistische Risiko, mit diesem Fortbewegungsmittel tödlich zu verunglücken, größer als beim Fahrrad. Aber auch das würde nicht zwingend verwundern.
Warum nicht?
Weil wir zwei Phänomene beim Pedelec haben. Zum einen fährt es schneller – und Geschwindigkeit ist nun mal ein erheblicher Faktor bei schweren oder tödlichen Verletzungen. Zum anderen haben wir eine Verschiebung der Nutzergruppe hin zu Älteren. Der gleiche Unfall hat bei einem 30-Jährigen andere Folgen als bei einem 70-Jährigen. Der 70-Jährige ist im Zweifelsfall schwer verletzt oder tot, während der 30-Jährige halbwegs geschickt abrollt und sich womöglich nur ein Bein bricht.
Würden Sie sagen, dass es typische E-Bike-Unfälle gibt?
Alles, was beim Fahrrad passiert, passiert auch beim E-Bike. Überproportionale Zahlen sehen wir beim sogenannten Alleinunfall – meist ein Sturz, oder aber der Zusammenstoß mit einem parkenden Auto – und beim Fahrunfall, der geprägt ist durch den Kontrollverlust über das Pedelec.
Lässt sich daraus schließen, dass viele Leute nicht richtig mit dem Pedelec umgehen können, also vom Potenzial ihres Gefährts überfordert sind?
Absolut. Das korreliert auch wieder mit dem teilweise hohen Alter der Nutzer.
Und was ist deren Hauptproblem? Die Kraftentfaltung des Motors?
Ja, und das erheblich höhere Gewicht des Fahrzeugs. Wenn das Pedelec durch ein äußeres Ereignis instabil wird, macht das Gewicht viel aus.
Welche anderen gesetzlichen Grenzwerte außer der Begrenzung auf 25 km/h gelten derzeit für normale Pedelecs?
Die maximal erlaubten 250 Watt Nenndauerleistung des Motors. Allerdings sagt dieser Wert praktisch nichts über die tatsächlichen Verhältnisse, etwa das Drehmoment oder die Spitzenleistung, aus. Manche Antriebe kommen auf über 100 Newtonmeter. So viel Drehmoment würde einem Motorrad gut stehen. Und trotzdem kann dieses Pedelec als Fahrrad gelten.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, Unfallzahlen bei E-Bike-Fahrern zu senken?
Schon lange plädiere ich dafür, auf technischer Ebene etwas zu tun. Wir haben in modernen Pedelecs einen Drehmomentsensor: An der Kurbel wird gemessen, wie viel Kraft der Fahrer einsetzt. Das macht den Menschen, um eine harmonische Kraftentfaltung hinzubekommen. Anders gesagt: Der Motor weiß, wie viel Kraft ich einsetze, und kann entsprechend die Spitzengeschwindigkeit regulieren. Wenn ich auch Quark in den Beinen habe und nur 50 Watt an die Kurbel bringe, würde das Ding eben nicht 25 km/h fahren, sondern langsamer.
Klingt ein bisschen nach Diskriminierung von Älteren.
Ich finde das nicht diskriminierend, es gibt ja auch sehr fitte Senioren. Mit dem Pedelec haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass man mit Geschwindigkeiten unterwegs sein kann, die nicht der persönlichen Konstitution entsprechen. Wenn das E-Bike ein Fahrrad ist, dann soll es sich auch so verhalten. Weitere Vorteile wie ermüdungsfreies Fahren oder Bergfahren ohne Schieben bleiben erhalten.
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Glauben Sie, dass die Einführung eines variablen Maximaltempos kommt?
Nein. Davon abgesehen finde ich die Idee aber nach wie vor gut.
Welche anderen Schritte hin zu mehr Sicherheit sind realistisch?
In der Praxis müsste das Thema Fahrradtraining viel höher gehängt werden. Viele Senioren sagen: „Fahrrad fahren konnte ich schon als Fünfjähriger, das brauche ich nicht zu trainieren.“ Aber alle, die an einem Fahrsicherheitstraining teilgenommen haben, sind danach ganz begeistert. Die Kraftentfaltung des Motors und das Bremsen sind Dinge, die man üben muss. Auch das Thema Antiblockiersystem spielt eine Rolle: Ein Fahrrad-ABS würde vielen helfen. Wer eine Schreckbremsung macht und voll in die Eisen geht, blockiert das Vorderrad. Gerade auf Sand oder Splitt führt das unweigerlich zum Sturz. Ein ABS kann das verhindern und ist deshalb beim Pedelec eine feine Sache.
Was halten Sie von begründenden Fahrsicherheitstrainings?
Nichts. Lieber die freiwillige Teilnahme beherzt propagieren.
Wer wäre außer den Unfallforschern in der Pflicht, das zu tun?
Der ADFC, aber auch die Hersteller über ihre Händler. Dann gibt es noch die Verkehrswacht, die selber Kurse anbietet. Grundsätzlich ist immer wieder zu hören, dass es nicht so einfach ist, derlei Schulungen vollzukriegen. Aber die, die da waren, empfehlen sie wärmstens weiter.
Befürworten Sie eine Helmpflicht für Pedelec-Fahrer?
Nein, kann ich gar nicht. Rechtlich ist das sogenannte Pedelec 25 ein Fahrrad. Ich kann auch nicht für das eine Gefährt einen Helm fordern und für das andere nicht.