„Sie haben uns mit Arschtritten aus dem Stadion gejagt“

Er ist in der Oberlausitz geboren, in Jena zu Hause – und in der Welt unterwegs. Im Schrank in der Ecke stehen Erinnerungsstücke, zum Beispiel eine Bierbüchse aus Perth mit seinem Konterfei. „Ein Stange-Bier. Verrückt, oder?“, sagt der 71-Jährige.
Beim FC Barcelona, wo er einen weißrussischen Spieler beobachtet hat, haben sie seinen Namen falsch aufs Schild geschrieben. Bernd Stanger steht dort. Eine witzige Anekdote am Rande. Den Vaterländischen Verdienstorden, den ihm DDR-Staatschef Erich Honecker überreicht hat, wollte er eigentlich nicht in die Vitrine legen. „Aber meine Söhne haben gesagt: Vater, der gehört zu dir, auch dafür musstest du Spiele gewinnen.“
Herr Stange, wo ist für Sie Heimat?
Ein Nest muss man als Fußball-Trainer haben. Meine Heimat ist Jena – und nach wie vor Bautzen. Aus der Ecke stamme ich, meine Mutter lebt dort mit 92 Jahren, mein Bruder ist mit seiner Familie hier zu Hause. Ansonsten ist Heimat da, wo meine Freunde sind, die immer und zu jeder Zeit zu mir gehalten haben, auch wenn ich mal niedergeschlagen oder gerade gefeuert gewesen bin. Das ist meine Fußballwelt. Hans Meyer hält hier an, wenn er in der Gegend ist, Harald Irmscher sowieso, Jürgen Raab, Eberhard Vogel, Konrad Weise… Wenn ich Andreas Thom in Berlin treffe oder Ralf Minge in Dresden, gibt das ein großes Hallo. Das sind Freunde, die ich anrufen würde, wenn ich nachts um zwei irgendwo auf dem Bahnhof stehe, kein Geld und nichts zu essen habe. Sie würden mich sofort abholen.
Sie waren Trainer in acht Ländern. Sind Sie als Weltenbummler auch privat reiselustig?
Das hat die Arbeit ergeben, aber acht Länder: Das ist doch nicht die Welt. Durch Stationen bin ich viel rumgekommen, habe viel gesehen. Schon als DDR-Nationaltrainer hatte ich das Privileg, mit der Auswahl in Südamerika und den USA spielen zu dürfen, weil es dafür Devisen gab, für die Ruderboote gekauft wurden. Ich war de facto überall. Deshalb bin ich nicht mehr sehr reiselustig.
Wo war es am schönsten auf der Welt?
Unbeschreiblich schön war Perth. Ich wusste nichts von Westaustralien. Der Vereinspräsident brachte mich in ein Haus mit Garten und Pool am Meer. Ich habe voller Anerkennung gesagt. Mister Nick Tanna, Sie sind ein Kapitalist. Und er meinte: Wenn Sie unterschreiben, gehört das Haus Ihnen, Sie wohnen hier. Ich konnte es nicht fassen, habe meine Frau angerufen: Pack den Koffer, wir ziehen mal für ein paar Jahre nach Australien.
Sie sind Meister geworden mit Perth Glory, Trainer des Jahres in Australien – und die Fans haben für Sie demonstriert. Wie war es dazu gekommen?
14.000 Menschen haben sich in der Stadt getroffen und sind zum Stadion marschiert und haben dort für mich skandiert, sodass der Präsident meinen Vertrag verlängern musste. Ich habe aber von mir aus gesagt: Ein geflicktes Hemd hält nicht lange. Deshalb habe ich aufgehört.
Man möchte meinen, es sei eine der friedlichsten Stationen gewesen. Trotzdem haben Sie auch in Australien eine bedrohliche Situation erlebt, die wieder einen politischen Hintergrund hatte…
Das war im Mai 2005. Wir spielten gegen Melbourne Knights, ein Klub, der von kroatischen Auswanderern geprägt wurde. Mein bester Torschütze, Bobby Despotovski, war ein Serbe. Serbien hatte in dem Balkankrieg in Kroatien sehr viel Leid und Schaden angerichtet. Nachdem wir mit dem 0:0 weitergekommen waren, hat der serbische Stürmer zwei Finger aufs Herz gehalten – die Geste der Soldaten, wenn die auf ihren Panzern einmarschiert sind. Das lief groß auf der Videoleinwand. Da sind die Emotionen eskaliert, sie haben uns mit Arschtritten aus dem Stadion gejagt, ins Kreuz getreten mit Stiefeln. Das war wirklich schlimm. Aber Sie hatten doch nach schönen Erinnerungen gefragt …
Ja, welche gibt es noch?
Zypern. Ich brauchte nach dem Irak etwas Entspanntes. Der Präsident von Apollon Limassol rief mich an. Sie seien Vorletzter, ob ich mir vorstellen könne, ihnen zu helfen. Also bin ich dorthin geflogen, und er hat mir einen Vertrag angeboten, bei dem ich sagen musste: Dafür arbeite ich nicht. Arsene Wenger hat seinen Preis, Ottmar Hitzfeld hat seinen Preis – und ich habe meinen Preis. Ich habe ihm angeboten, ihm zu helfen, weil ich viele gute Trainer kenne, die es für diese Summe X übernehmen würden. Das war im Oktober, November.
Am 3. Januar rief er wieder an. Sie seien jetzt Letzter, ich müsse unbedingt kommen, sie bezahlen mich. Also bin ich nach Zypern, habe auch dort ein wunderschönes Haus bekommen. Harald Irmscher hat zu der Zeit Türen und Fenster gebaut, ich habe zu ihm gesagt: Wenn du intensiv Englisch lernst, kannst du als Co-Trainer mitkommen. Das hat er gemacht. Wir wurden in dem Jahr Sechster und im nächsten ungeschlagen Meister, haben den Supercup gewonnen. Ich hatte vier junge Iraker, 19, 20 Jahre, mitgenommen.
Auch in Zypern wurden Sie zum Trainer des Jahres gewählt. Trotzdem gab es dann auch dort ein bitteres Ende, warum?
Die besten Spieler haben den Verein nach dem Titelgewinn verlassen, weil sie bei anderen Klubs zum Beispiel in Griechenland mehr verdienen konnten. Es gab Querelen, der Präsident wurde abgesetzt. Harald hat dazu ein paar harte Worte gesagt in den Medien. Daraufhin haben sie ihn entlassen, ohne mich zu informieren. Ich habe gefordert: Ihr stellt ihn sofort wieder ein oder ich fliege morgen nach Hause. Also habe ich meine Koffer gepackt. Da war ich konsequent.
Wie beurteilen Sie den deutschen Fußball derzeit?
Ich habe mich vor längerer Zeit warnend geäußert über die Qualität des deutschen Fußballs, speziell der Bundesliga. Mir hat aber ein Chefredakteur mitgeteilt, dass ich zu kritisch bin und dieses wunderbare Produkt nicht schlecht reden soll, das so gut funktioniert. Es gibt nur ein Kriterium im Fußball, das sind Resultate. Wenn unsere Mannschaften in der Europa League in der Gruppenphase scheitern, in der Champions League sowieso keine Rolle spielen außer dem FC Bayern, muss man Alarm schlagen und sich hinterfragen. Die WM in Russland hat deutlich gezeigt, dass wir Schnelligkeitsnachteile hatten. Joachim Löw hat denen vertraut, mit denen er sich vier Jahre zuvor nach dem WM-Titel in Brasilien in den Armen gelegen hat, sich gefeiert und übersehen, dass die Entwicklung weitergegangen ist. Jetzt hat er einen Schnitt gemacht, den er hätte eher machen müssen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.
Wo sehen Sie denn das grundsätzliche Problem?
Die jungen Spieler kennen alle Systeme, es wird fast nur noch über Taktik gesprochen, aber die Grundlagen wie Technik, sauberes Passspiel, Eins-gegen-Eins-Situationen rücken offenbar in den Hintergrund. Da muss man hinterfragen, was in der Ausbildung los ist.
Das Interview führte: Sven Geisler.
Bereits erschienen:
Teil 1: „Einmal habe ich gedacht: Jetzt ist es vorbei!“ (SZ-PLUS)
Bernd Stange war als Nationaltrainer in Syrien und hat den Krieg erlebt. Für sächsische.de spricht der bei Bautzen geborene Fußballlehrer zum ersten Mal über seine Erlebnisse.
Teil 2: Warum Bernd Stange bei der Stasi unterschrieb (SZ-PLUS)
Der Trainer war mit dem DDR-System auf gewisse Weise verbunden. Das schützte ihn jedoch nicht vor dem Druck der Funktionäre - Teil 2 des exklusiven Interviews.