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„Man kann kein Kind zum Leistungssport zwingen“

Im Interview spricht Ex-Teamchefin Petra Nissinen über die Chemnitzer Turnaffäre, ihre Zusammenarbeit mit Trainerin Gabriele Frehse und die Aufarbeitung.

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Petra Nissinen betreut als Trainingswissenschaftlerin derzeit talentierte Turnerinnen bei einem Lehrgang in Frankfurt am Main - und äußert sich offen zur Chemnitzer Turnaffäre.
Petra Nissinen betreut als Trainingswissenschaftlerin derzeit talentierte Turnerinnen bei einem Lehrgang in Frankfurt am Main - und äußert sich offen zur Chemnitzer Turnaffäre. © Alex Kraus/kapix.de

Chemnitz. Sie weiß, wovon sie redet. Petra Nissinen hat selbst geturnt, an deutschen Meisterschaften teilgenommen. „Ich wäre mit wehenden Fahnen auch ins Internat nach Frankfurt gegangen, wenn meine Leistungen dafür gut genug gewesen wären“, sagt die 58-Jährige. Sie hat an der Sporthochschule in ihrer Heimatstadt Köln studiert, in Trainings- und Bewegungslehre sowie Sport-Traumatologie promoviert, war am Projekt zu Belastungen und Risiken im Kunstturnen beteiligt.

Seit 1990 arbeitet Nissinen am Olympiastützpunkt in Hessen mit Schwerpunkt Gerätturnen, von 2000 bis 2004 war sie zudem als Teamchefin für die deutsche Auswahl verantwortlich, wurde aber nach der um 0,04 Punkte verpassten Qualifikation für die Spiele in Athen abgelöst. In einem Statement hat sie sich zu den Vorwürfen gegen die Chemnitzer Trainerin Gabriele Frehse und deren Aufarbeitung durch den Deutschen Turner-Bund (DTB) positioniert. Es sei kein „Fall Chemnitz oder Fall Frehse“, der Spitzensport brauche einen Kultur- und Strukturwandel.

Im exklusiven Gespräch mit Sächsische.de erläutert Nissinen ihre Sichtweise.

Frau Nissinen, wie stellt sich für Sie der „Fall Chemnitz“ dar?

Was ich in der Presse und der Stellungnahme des DTB lese, widerspricht dem, was ich mit Gabriele Frehse bei zentralen Lehrgängen und in der täglichen Zusammenarbeit zwischen 2002 und 2003 erlebt habe. Ich bin jedoch nicht vor Ort und möchte mir deshalb kein Urteil darüber erlauben, was in der Vergangenheit am Stützpunkt geschehen ist. Aber was ich selbst mitbekommen habe, war sehr professionell und bei Frau Frehse (sie hat die Vorwürfe unter anderem im Interview mit Sächsische.de zurückgewiesen/Anm. d. Red) von sehr viel Empathie gegenüber den Turnerinnen geprägt, und nicht nur ihren eigenen.

Sie schreiben in einem Standpunkt, Frehse werde als „Bauernopfer“ missbraucht. Wie meinen Sie das?

DTB-Präsident Alfons Hölzl sagt selbst, dass es sich bei den erhobenen Vorwürfen nicht nur um ein sächsisches Problem handelt. Es wird in der Öffentlichkeit jedoch allein auf den Schultern von Frau Frehse ausgetragen. Ich bin weder daran interessiert jetzt weitere Personen auf die Anklagebank zu holen, noch die Trainer unter Generalverdacht zu stellen, sondern wir sollten gemeinsam, mit Frau Frehse im Boot, den Struktur- und Kulturwandel vorantreiben, der meines Erachtens bereits lange eingesetzt hat. Die derzeitige Aufarbeitung ist mir viel zu einseitig und zu wenig im historischen Kontext und im herrschenden Fördersystem gesehen. Es wird nach wie vor nach Medaillen abgerechnet und nicht hinterfragt: Machen wir einen humanen Leistungssport?

Was meinen Sie mit dem historischen Kontext konkret?

Spätestens mit Nadja Comaneci (die Rumänin holte 1976 und 1986 insgesamt fünfmal Olympia-Gold/Anm. d. Red) wurde das osteuropäische und später insbesondere auch das amerikanische Trainingssystem als großes Vorbild hingestellt, die Erfolge medial bejubelt, auch seitens der DTB-Führung. Es gab nur wenige kritische Stimmen in Bezug auf die pädagogische Qualität oder gar die Forderung nach einem eigenen verantwortungsbewussten Weg. Dennoch hat sich in den 30 Jahren, seit ich es beobachte, bereits einiges getan.

Inwiefern?

Der Umgang mit den Turnerinnen, die Sprache hat sich verändert – hin zu einem deutlich demokratischeren Führungsstil. Es wird viel mehr auf Augenhöhe mit ihnen agiert. Der Grat ist schmal. Wir können kein Laissez-faire-Training machen nach dem Motto: Wie hättest du es gerne? Wir reden von Leistungssport. Die Trainer haben eine riesige Verantwortung für die Gesundheit, aber auch die Leistungsentwicklung der Turnerinnen. Dieser müssen sie natürlich ohne Gewalt und Erniedrigung gerecht werden.

Trainerin Gabriele Frehse ist seit dem vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel Ende 2020 öffentlich gemachten Vorwürfen ehemaliger Schützlinge vom Olympiastützpunkt Sachsen freigestellt, der Deutsche Turner-Bund (DTB) fordert ihre Entlassung.
Trainerin Gabriele Frehse ist seit dem vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel Ende 2020 öffentlich gemachten Vorwürfen ehemaliger Schützlinge vom Olympiastützpunkt Sachsen freigestellt, der Deutsche Turner-Bund (DTB) fordert ihre Entlassung. © imago sportfotodienst

Oft hört man, ein rauer Ton und auch ein verbaler Tritt in den Hintern gehöre dazu. Wie kriegt man es anders hin?

Athletinnen sind unterschiedlich, gerade die besonders talentierten brauchen später eher einen solchen Tritt, weil ihnen in jungen Jahren vieles leichter gefallen ist als anderen. Die Grundlage allen Handelns muss eine sehr gute Ausbildung der Trainer sein. Ich beobachte als Trainingswissenschaftlerin immer wieder, dass sehr viel an den Auswirkungen korrigiert wird, aber die Trainer die Ursachen für die Fehler häufig nicht erkennen. In der Folge werden sie nicht selten ungeduldig und kritisieren die Turnerinnen zu Unrecht. Ich plädiere für eine solide trainingswissenschaftliche, vor allem biomechanische Ausbildung. Turnen ist Biomechanik. Deshalb braucht man ein Verständnis für die Gesetze von Newton. Einige Trainer versuchen es meist mit zu viel psychischem Druck, die Turnerinnen zur erfolgreichen Umsetzung eines Elements zu bringen. Das funktioniert leider manchmal, ist aber nicht der richtige Weg.

Welcher ist es denn?

Wie gesagt, eine solide Trainerausbildung und unter anderem die Erkenntnis, dass die konditionellen Grundlagen immens wichtig sind und dafür ein hartes Krafttraining unverzichtbar ist. Krafttraining vor Techniktraining ist die Grundlage für die Entwicklung einer guten Bewegungstechnik, die wiederum zu einer Reduzierung der mechanischen Belastung und somit auch der Verletzungshäufigkeit beiträgt. Und selbstverständlich gehört ein respektvoller Umgangston dazu. Man muss sachlich bleiben, es darf nie persönlich werden. Und hier ist neben einer hohen pädagogisch-psychologischen Kompetenz eben auch die naturwissenschaftliche hilfreich.

Diskuswurf-Olympiasieger Robert Harting hat in der MDR-Sendung „Fakt ist!“ neue trainingsmethodische Konzepte angemahnt, weil man sonst die Kinder und Jugendlichen für den Leistungssport nicht begeistern kann. Haben Sie welche in der Schublade?

Konzepte haben wir eine Menge, das Problem ist die Umsetzung in der Praxis. Ich habe bereits zur Jahrtausendwende an einer Studie zu Belastungen und Risiken im weiblichen Kunstturnen mitgewirkt und als Teamchefin dafür gekämpft – manchmal gegen Windmühlen –, dass die biomechanischen, sportmedizinischen, pädagogischen und psychologischen Erkenntnisse umgesetzt werden. Das ist immer noch nicht ausreichend im Alltag angekommen. Wir müssen die Trainingsqualität verbessern, anstatt die Umfänge immer weiter nach oben zu schrauben.

Ihr Sohn Jukka ist 15 Jahre und gehört zum deutschen Leistungskader. Wie nehmen Sie Einfluss auf sein Training?

Mein Mann ist selbst Biomechaniker, wir haben den Vorteil, uns sehr gut in der Materie auszukennen. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, insbesondere für seine physische und psychische Gesundheit. Wir als Eltern müssen ein Augenmerk darauf haben, dass es unserem Kind gut geht. Wir führen sehr viele Gespräche, legen sehr viel Wert auf die schulische Entwicklung, zeigen immer wieder Perspektiven zur sportlichen Karriere auf. Wir sind eher die, die bremsen und nicht die, die pushen. Die Motivation muss vom Kind kommen. Man kann kein Kind zum Leistungssport zwingen.

Pauline Schäfer holte bei der Weltmeisterschaft 2017 in Montreal überraschend die Goldmedaille am Schwebebalken. An ihrem Paradegerät hat sie ein eigenes Element mit höchster Schwierigkeit kreiert, den Schäfer-Salto. Nach einer enttäuschenden Europameiste
Pauline Schäfer holte bei der Weltmeisterschaft 2017 in Montreal überraschend die Goldmedaille am Schwebebalken. An ihrem Paradegerät hat sie ein eigenes Element mit höchster Schwierigkeit kreiert, den Schäfer-Salto. Nach einer enttäuschenden Europameiste © dpa/Thomas Kienzle

Ein leidiges Thema ist das Gewicht. Sie verfolgen den Ansatz, dass es nicht nur um den Body-Maß-Index geht.

Für mich ist die regelmäßige Messung des Unterhaut-Fettgewebes ein wesentlicher Parameter. Die gewünschte Muskelmasse ist nun mal schwerer als Fettmasse. Ich kenne viele Beispiele für Turnerinnen, die gleich groß sind, aber ein unterschiedliches Körpergewicht auf die Waage bringen – bedingt durch ein unterschiedliches Last-Kraft-Verhältnis. Der Unterhaut-Fettwert ist wichtig für eine gesundheitsverträgliche Belastungsgestaltung. Das habe ich seit Beginn meiner Tätigkeit als Sportwissenschaftlerin mit den Trainern, Turnerinnen und Eltern auch so kommuniziert.

Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang in der Zusammenarbeit mit Gabriele Frehse gemacht?

Sie ist eine derjenigen, die diese Methode für ihre Turnerinnen regelmäßig bei mir in Anspruch nimmt. Gabi Frehse hat nach beinahe jeder Messung in meinem Beisein mit den Sportlerinnen ihre Werte besprochen, ihnen – falls notwendig – Möglichkeiten aufgezeigt, und sie bei ungünstigen Werten nach oben wie nach unten beruhigt: Eine Veränderung geht nicht von heute auf morgen. Ich kann nichts anderes sagen, als dass sich Frau Frehse dieser Thematik sehr verantwortungsbewusst angenommen hat.

Sie schreiben, die Motivation für die Aussagen der Turnerinnen um Pauline Schäfer sei neben tatsächlich erlebten emotionalen Verletzungen auch verletzte Eitelkeit und Frust über nicht erreichte eigene Ziele. Sie zweifeln also an den Aussagen?

Ich möchte überhaupt nicht in Abrede stellen, dass sie es für sich so empfunden haben. Psychische Gewalt, emotionaler Druck – das kann man schwer belegen, aber auch nicht widerlegen. Äußerungen der Trainer und Betreuer kommen individuell unterschiedlich an und sind auch stark von der jeweiligen sportlichen Situation der Turnerin abhängig. Läuft es gut, wird die gleiche Ansprache anders wahrgenommen. Es ist gut, dass die Missstände aufgezeigt wurden, allein den Weg über die polemischen Spiegel-Artikel und die einseitige Schuldzuweisung kann ich nicht akzeptieren.

Sie kritisieren auch die Aufarbeitung der Vorwürfe durch den DTB. Was erwarten Sie vom Verband?

Ich finde es merkwürdig, dass zum Beispiel der Lenkungsstab Gerätturnen weiblich bis heute überhaupt nicht einbezogen wurde, obwohl dieses Gremium mitverantwortlich für die sportliche Entwicklung der Turnerinnen ist. Wir wurden nicht nach unserer Meinung gefragt. Die verbandsinterne Aufarbeitung ist mit viel zu einseitig, für Gegenstimmen gibt es kein Gehör, obwohl es viele davon gibt.

Ein Foto aus gemeinsam erfolgreichen Zeiten: Pauline Schäfer wurde mit ihrer Trainerin Gabriele Frehse 2017 Weltmeisterin am Schwebebalken. Inzwischen erhebt die Turnerin schwere Vorwürfe.
Ein Foto aus gemeinsam erfolgreichen Zeiten: Pauline Schäfer wurde mit ihrer Trainerin Gabriele Frehse 2017 Weltmeisterin am Schwebebalken. Inzwischen erhebt die Turnerin schwere Vorwürfe. © Foto: Visum/Christoph Busse

Sie waren für eine Steuerungskommission für die Weiterentwicklung des Kultur- und Strukturwandels vorgesehen, wurden dann aber nicht berufen. Mit welcher Begründung?

Ich bin eine der wenigen gewesen, die sehr frühzeitig kritische Fragen zur Aufarbeitung und zu dem Untersuchungsbericht gestellt haben. Die Trainer hätten mich wahrscheinlich gewählt, aber das war von der Verbandsführung nicht gewollt. Mir geht es nicht um die Position, sondern darum, wie im DTB mit kritischen Stimmen umgegangen wird. Das darf nicht sein.

Worin liegt für Sie der Ausweg im „Fall Frehse“?

Das wäre eine Mediation gewesen, zumindest der Versuch, bevor man sich ein so krasses Urteil bildet und sogar soweit geht, Gabriele Frehses Lebenswerk und Existenz zerstören zu wollen. Ich würde es begrüßen, wenn Gabriele Frehse zumindest in Chemnitz am Bundesstützpunkt, den sie maßgeblich mit aufgebaut hat, eine zweite Chance bekommt. Die derzeit am Stützpunkt aktiven Turnerinnen und ihre Eltern haben sich eindeutig dafür ausgesprochen. Aber nun geht es wohl vor Gericht und ich fürchte, es wird ein unerbittlicher Kampf.

Das Gespräch führte Sven Geisler.