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Die Lust an der Qual: Warum Sport immer extremer wird

Freizeit-Marathonis sind keine Exoten mehr, sondern ein Massenphänomen. Hinter dem Boom der Extrem-Läufe stehen wirtschaftliche Interessen, aber auch eine Gesellschaft, in der sich die Vorstellung von Freizeit verändert hat.

Von Daniel Klein
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Laufen ist längst zu einem Massenphänomen geworden - vor allem in Dresden. Aber was treibt die Hobby-Marathonis an?
Laufen ist längst zu einem Massenphänomen geworden - vor allem in Dresden. Aber was treibt die Hobby-Marathonis an? © Archiv: SZ/Roland Bonß

Für Kerstin Kupka wird es erst jenseits der klassischen Marathon-Strecke interessant – je länger, desto besser. „Mich reizt es, Grenzen zu verschieben“, sagt die 55-jährige Extremsportlerin aus Coswig, die schon mal durch Wüsten läuft oder 24 Stunden am Stück – weil es ihr Spaß macht. Und weil sie sich nicht vorstellen kann, darauf zu verzichten.

Ausdauersport ist zu einem Massenphänomen geworden. Mit den Begleiterscheinungen einer millionenschweren Industrie und mit Leuten, die unbedingt mitlaufen wollen bei diesem Trend, sich aber nicht genügend vorbereiten. Das geht meist glimpflich aus, auch wenn es manchmal anders scheinen mag angesichts von Nachrichten über Teilnehmer, die bei solchen Wettbewerben zusammenbrechen oder kollabieren. Doch das kommt selten vor. Der 19-jährige Hobby-Triathlet, der Mitte Juni beim Schlosstriathlon in Moritzburg starb, hatte eine Herzmuskelentzündung, also eine offensichtlich unerkannte Vorerkrankung, die zum Tod führte. Bei der Traditionsveranstaltung war es der erste Todesfall in 20 Jahren. Abschrecken lässt sich von solchen Nachrichten kaum jemand.

Beim ersten Ironman-Triathlon, der am Sonntag in Dresden stattfinden sollte, dauerte es keine zwei Monate, da waren alle Startplätze vergriffen. Ausverkauft meldeten die Veranstalter bereits Mitte Mai, um dann am Mittwoch wegen einer nicht genehmigten Radstrecke das Rennen abzusagen. Die Startgebühr, die zwischen 300 und 373 Euro lag, ist kein Schnäppchen. Einen Stapel Geld ausgeben, um sich schinden und quälen zu können – das liest sich nicht wie ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Doch genau das ist es.

Die Zahl der Ausdauer-Wettkämpfe steigt weiter

Die weltweit agierende Ironman-Gruppe sucht ständig nach neuen Austragungsorten, um expandieren zu können. In Dresden soll das Rennen nun im September nachgeholt werden. Oder erst 2024, bis dahin gilt der Vertrag mit der Stadt. Ironman stößt hier im Osten Sachsens keinesfalls in eine bisher verwaiste Triathlon-Region vor. Neben dem in Moritzburg gibt es seit vielen Jahren auch beliebte Wettkämpfe am Olbersdorfer See bei Zittau und am Knappensee bei Hoyerswerda. Unter den Läufern gilt Dresden gar als Deutschlands Hauptstadt, nirgends gibt es gemessen an der Einwohnerzahl mehr Teilnehmer an Laufveranstaltungen.

Von einem Boom möchte Reiner Mehlhorn trotzdem nicht mehr sprechen, allenfalls von einem Trend. „Die Starterzahlen steigen nicht mehr, wohl aber steigt die Anzahl von Ausdauer-Wettbewerben“, sagt der 66-Jährige, der als Inhaber einer Personal-Training-Firma viele Hobby-Athleten in und um Dresden betreut.

Im Ziel am Ziel: Der Dresdner Alexander Beer qualifizierte sich beim Ironman auf Lanzarote für die WM auf Hawaii. Für die Reise dorthin investiert er mehrere Tausend Euro.
Im Ziel am Ziel: Der Dresdner Alexander Beer qualifizierte sich beim Ironman auf Lanzarote für die WM auf Hawaii. Für die Reise dorthin investiert er mehrere Tausend Euro. © Finisherpix.com

Er kennt die Motive, warum Frauen und Männer anfangen zu laufen – und in den meisten Fällen auch nicht mehr aufhören. „Oft ist ein Schlüsselerlebnis im Familien- oder Freundeskreis der Auslöser“, erklärt er. Das kann ein medizinischer Notfall sein, ein unverhüllter Ganzkörper-Blick in den Spiegel oder das Drängen des Kollegen, doch auch beim Firmenlauf mitzumachen. Unternehmen haben den Trend längst erkannt, immer mehr sorgen sich um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter, organisieren Lauftreffs, finanzieren die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio. „Mitunter entsteht da auch ein Druck, weil die Chefs und viele Kollegen mitmachen. Da will man sich nicht ausgrenzen und fängt irgendwann an loszulaufen“, sagt Mehlhorn. „Das erste Ziel ist meist, fünf Kilometer am Stück durchzustehen.“

Das typische Einstiegsalter ist nach seiner Erfahrung Mitte 40, wenn die Kinder schon etwas älter sind, wieder mehr Zeit für ein Hobby bleibt und das eine oder andere Fettpölsterchen gewachsen ist. Alexander Beer passt genau in dieses Muster. Der Dresdner ist 51, vor neun Jahren absolvierte er seinen ersten Jedermann-Triathlon, im Oktober startet er nun bei gleich zwei Ironman-Weltmeisterschaften – erst beim Klassiker auf Hawaii, drei Wochen später dann auf der Halbdistanz.

Abzusehen war solch eine späte Karriere nicht. „In der Schule habe ich den Sportunterricht gehasst und schon mal absichtlich den Turnbeutel vergessen“, erinnert sich Beer, der als Tontechniker beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet. Auf seinem Zeugnis stand entweder eine Drei oder eine Vier. Eingestiegen ist auch er über das Laufen, das er rückblickend als „planloses Joggen“ bezeichnet. Triathlon fand er schon immer cooler, doch seine Schwimmkünste beschränkten sich darauf, im Wasser nicht unterzugehen. Beer trat in einen Verein ein, lernte das Kraulen und meldete sich bei Wettkämpfen an. Spätestens als er im fränkischen Roth, wo Triathlon mehr eine Weltanschauung als ein Sport ist, das erste Mal vorbei an einem Spalier von feiernden und jubelnden Zuschauern durchs Ziel lief, wusste er: „Das ist so toll und emotional – das will ich noch viel öfter erleben.“

"Einfach mal abschalten - das machen nur noch wenige"

Alexander Beer steht nicht nur mit seinem Einstiegsalter exemplarisch für die Ausdauerszene, sondern auch mit seinem Hang, sich mit anderen messen zu wollen. Das Feierabendläufchen, um etwas für die Gesundheit und gegen die Pfunde zu tun, reicht vielen nicht mehr. Es muss der Wettkampf sein, der Kampf gegen die Uhr und um die Platzierung. Für Mehlhorn spiegeln sich darin auch Verhaltensmuster der Gesellschaft wider. „Im Beruf hetzt man von Termin zu Termin, das Handy ist omnipräsent, ständig werden neue Ziele formuliert, was gestern war, zählt nicht mehr“, erklärt er. „Und das überträgt sich auf die Freizeit, das Hobby, den Sport. Einfach mal abschalten, ein Buch lesen und runterfahren – das machen nur noch wenige.“

Deutlich wurde das auch in den Zeiten, als strenge Corona-Auflagen galten. „Da haben viele aufgehört mit dem Training, weil ihnen die Wettkämpfe fehlten und damit die Ziele“, so Mehlhorn. Mitunter muss er einen Schützling bremsen, der zu schnell zu viel will. Oder andere, die ständig neue Erfolgserlebnisse brauchen, die in Gefahr geraten, süchtig zu werden. „Ich versuche ihnen aufzuzeigen, dass man sich solche Erlebnisse nicht nur im Sport holen kann, und rate ihnen zum Beispiel, Zeit mit der Familie zu verbringen, ins Kino oder Theater zu gehen.“

Kerstin Kupka lief in Namibia Ende Mai in neun Tagen 520 Kilometer durch eine Steinwüste. Die Schlafutensilien und Proviant trug die 55-jährige Extremläuferin in einem Rucksack.
Kerstin Kupka lief in Namibia Ende Mai in neun Tagen 520 Kilometer durch eine Steinwüste. Die Schlafutensilien und Proviant trug die 55-jährige Extremläuferin in einem Rucksack. © Foto: Canal/Aventure.Shams

Manche unter den Hobbysportlern reizt selbst ein Marathon oder ein Langstrecken-Triathlon nicht mehr, für sie muss es noch länger, noch extremer sein. In dieser Sparte wächst das Angebot weiter, es gibt Ultrarennen mit massiven Steigungen, durch Wüsten, selbst in der Antarktis. Oder das „Race Across America“, 4.830 Kilometer mit dem Rad nonstop quer durch die USA – wer schläft, verliert. Der neuste Trend sind Tageswanderungen über 100 Kilometer.

Das liest sich für einen Durchschnittsbürger wie ein Mix aus Selbstgeißelung und Höllenqual, für Kerstin Kupka sind das dagegen reizvolle Ziele und Herausforderungen. Ende Mai kehrte sie aus Namibia zurück, wo sie in neun Tagen 520 Kilometer durch die Steinwüste gelaufen war – mit einem Rucksack auf dem Rücken und bei Temperaturen, die zwischen dem Gefrierpunkt und 37 Grad schwankten. „Danach“, sagt die Buchhalterin, „brauchte ich keinen Urlaub. Ich war erholt.“

Genussläuferin auf extrem langen Strecken

Ihr Rekord bei einem 24-Stunden-Rennen steht bei 134 Kilometern, besonders gerne ist sie laufend in den Bergen unterwegs, überquert die Alpen, beim Rennsteiglauf wählt sie als Strecke den Supermarathon über 74 Kilometer. Durchgeknallt oder gar unverantwortlich sei das keinesfalls, sagt sie. Diese Sichtweise unterstützt Mehlhorn: „Extremsportler empfinden ihre Wettkämpfe nicht als extrem. Sie haben Spaß dabei, wenn sie sich richtig vorbereitet haben, auch wenn das für Außenstehende seltsam klingt.“

Kupka bezeichnet sich selbst als Genussläuferin. Anfangs war sie noch mit Kopfhörern unterwegs, jetzt ersetzen Vogelgezwitscher und das Rauschen der Bäume die Musik. „Ich bin fast ausschließlich in Landschaften unterwegs und bleibe bei einer schönen Aussicht schon mal stehen“, erzählt sie. Beim Laufen komme sie auf andere Gedanken und löse das eine oder andere Problem – privat wie beruflich.

Fußpflege am Etappenziel: Die Füße von Kerstin Kupka sind am Ende von mehrtägigen Läufen oft von Pflastern übersät.
Fußpflege am Etappenziel: Die Füße von Kerstin Kupka sind am Ende von mehrtägigen Läufen oft von Pflastern übersät. © www.gabrielpielke.com

Der zeitliche Aufwand ist bei den Strecken, die sie absolviert, dennoch enorm. An fünf oder sechs Tagen in der Woche schnürt sie ihre Laufschuhe und ist dann ein bis sechs Stunden weg. Die langen Einheiten verlegt sie aufs Wochenende. „Ich versuche, das gut mit meiner Familie in Einklang zu bringen“, erklärt sie. „Deshalb trainiere ich schon mal in den frühen Morgenstunden.“ Inzwischen hat sie die Umfänge reduziert, macht mehr Yoga.

Die Gefahr, dass durch das zeitintensive Hobby nahestehende Menschen vernachlässigt werden, ist jedoch groß. Dies hat Triathlet Beer erlebt, als er sich auf seinen ersten Langdistanz-Wettkampf vorbereitet hatte. „Ich dachte, ich schaffe es nicht ins Ziel, wenn ich auch nur eine Einheit auslasse. Rückblickend habe ich mir da ein bisschen wenig Zeit für meine Tochter genommen“, erzählt er. „Aber als ich dann in Roth die letzten Meter mit ihr gemeinsam bis ins Ziel gelaufen bin, war das für mich der schönste Moment. Ich habe geheult vor Glück“, sagt er und kämpft selbst beim Erzählen mit den Tränen.

Sein Freundeskreis hat sich in den vergangenen Jahren verändert, besteht nun fast ausschließlich aus Ausdauerathleten, Beer nennt sie seine „Sport-Community“. Seine Partnerin ist ebenfalls Triathletin. „Leute, die keinen Bezug dazu haben, fehlt oft das Verständnis“, sagt er. Hinzu komme, dass kaum noch Zeit für andere Dinge bleibe. Trotzdem findet er, dass er entspannter geworden sei, nun auch mal nach Rücksprache mit seinem Trainer eine Einheit weglässt oder verkürzt.

Triathlon-Räder im Wert eines Kleinwagens

Das Zeitmanagement ist eine Herausforderung im Ausdauersport, das Finanzielle eine andere – zumindest bei den Triathleten, die im Gegensatz zu den Läufern mehr brauchen als bequeme Schuhe. Neben einem Neoprenanzug fürs Schwimmen in kalten Gewässern ist da das Rad. Oder besser die Hightech-Maschine. Die von Beer hat 8.000 Euro gekostet, ein eher mittelpreisiges Modell.

Mehlhorn, jahrelang Organisationschef des Moritzburger Schlosstriathlons, hat in der Wechselzone auch schon 15.000-Euro-Räder gesehen – der Wert eines Kleinwagens, um einige Sekunden oder Minuten schneller im Ziel zu sein. Eine bedenkliche Entwicklung, findet der Trainer und erzählt von Startern, die in Moritzburg in diesem Jahr mit Klapprädern angetreten waren, auch, um ein Zeichen gegen diese Spirale zu setzen.

Beer muss für den Ironman auf Hawaii weitaus mehr investieren als nur viele Trainingsstunden. Durch den coronabedingten Ausfall 2020 gab es einen Stau an Teilnehmern, die sich qualifiziert und bereits die Startgebühr von umgerechnet mehr als 1.000 Euro überwiesen haben. Deshalb dürfen nun Anfang Oktober doppelt so viele Triathleten antreten – 5.000 statt der üblichen 2.500. Die Folge: Die Hotels sind ausgebucht oder verlangen Mondpreise.

„800 bis 1.000 Dollar pro Nacht und pro Person“, hat Beers Recherche ergeben. Hinzu kommen rund 1.500 Euro für Hin- und Rückflug. Um sich an Zeitumstellung und das schwüle Klima auf der Pazifikinsel zu gewöhnen, wollte er zehn bis zwölf Tage vor dem Start anreisen. Womöglich muss er seine Pläne ändern, ist auf der Suche nach Sponsoren. Beim Landessportbund Sachsen hat er bereits angefragt. Vergeblich. Dort wird der Ironman unter Privatvergnügen eingestuft. Für Beer ist er „ein Traum, eine Belohnung, die Kirsche auf der Sahne. Wenn ein Triathlet etwas anderes sagt, untertreibt er.“ Der Dresdner möchte das Rennen genießen, „aber auch nicht bummeln. Nur ankommen ist bei diesen Preisen kein Ziel, da will ich schon ein gutes Ergebnis.“ Aufgeben musste er noch nie, eine Premiere bei der Hawaii-Premiere „wäre blöd“.