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Kretschmer zu Lockerungen: "Es funktioniert nicht"

Sachsens Ministerpräsident Kretschmer hat die jüngsten Öffnungen deutlich kritisiert. In der Corona-Pandemie solle mehr auf die Wissenschaft gehört werden.

Von Fabian Deicke & Annette Binninger
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Sachsens Ministerpräsident Kretschmer hält schnelle Öffnungen für falsch.
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer hält schnelle Öffnungen für falsch. ©  Robert Michael/dpa

Dresden. Nach Ansicht des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ist der von Bund und Ländern vor zwei Wochen initiierte Lockerungsversuch gescheitert. "Es funktioniert nicht", sagte er am Mittwoch in einer Videokonferenz mit Kommunalpolitikern aus dem Erzgebirge und verwies dabei auf die erneut wachsende Zahl an Corona-Infektionen. Man müsse nun versuchen, die Lage wieder zu normalisieren.

Kretschmer erklärte, dass schon kleine Veränderungen im Verhalten der Bevölkerung sofort für ein anderes Infektionsgeschehen sorgen würden. Man bewege sich derzeit auf einem sehr dünnen Eis und könne bei jedem Schritt einbrechen. "Es ist nur deswegen noch nicht zum Ertrinken gekommen, weil wir noch nahe genug am Rand sind. Aber wir werden den Teich nicht durchschreiten können."

Kommunalpolitiker fordern Abkehr von Inzidenzwerten

Vorausgegangen war der Konferenz ein Offener Brief, in dem sich Bürgermeister aus dem Erzgebirge bei der Regierung über Unklarheiten bei den Schutzmaßnahmen beklagt hatten. Durch ein "'Wirrwarr' von inzwischen kaum mehr überschaubaren Normen", so die Kommunalpolitiker, würde man die Unterstützung in der Bevölkerung verlieren. Sie forderten eine Abkehr von einer Politik, die sich an Inzidenzwerten orientiert. Schließlich würde in Städten wie Annaberg-Buchholz mit rund 20.000 Einwohnern die kritische Inzidenzschwelle von 100 bereits bei einer Zahl von 20 positiv Getesteten binnen einer Woche erreicht.

Auch zum weiteren Vorgehen in Schulen und Kitas haben die Erzgebirgspolitiker eine klare Bitte. Sie wollen, dass die Einrichtungen auch trotz steigender Infektionszahlen vor den Osterferien (29.3. - 11.4.) nicht mehr geschlossen werden. Eine Schließung in der kommenden Woche wäre katastrophal, sagte der Zwönitzer Bürgermeister Wolfgang Triebert (CDU) in der Videoschalte mit dem Ministerpräsidenten. Man müsse den "Mut finden, diese Entscheidung zu treffen". Kretschmer widersprach, weil es nicht um Mut, sondern Gesundheitsschutz gehe. Schulen und Kitas spielten demzufolge inzwischen bei der Übertragung von Infektionen eine wesentlich größere Rolle als zuvor. Eine Entscheidung, ob in Kreisen mit Inzidenzwerten über 100 Schulen und Kitas schließen müssen, soll am Donnerstag fallen.

Kretschmer im MDR: Keine weiteren Lockerungen

Am Mittwochabend ließ sich Kretschmer dann live in den MDR-Sachsenspiegel schalten und verteidigte auch dort seinen neuen Corona-Kurs. „Wenn der Impfstoff nicht in ausreichendem Maße vorhanden sei, dann bleibt nur die Test-Strategie“, sagte Kretschmer. Dies habe die Ministerpräsidenten-Konferenz jedoch beiseite geschoben. Das sein „in gewisser Weise auch verständlich“. Die Menschen wünschten sich Lockerungen und Öffnungen. Auf die Frage, warum er dann trotzdem bei diesem Kurs mitgemacht habe, sagte Kretschmer, dass Sachsen „eine sehr stringente Linie gehalten“ habe. Öffnungen seien an Schnelltest gekoppelt worden, dagegen habe es viel Widerstand auch aus der Wirtschaft gegeben.

„Der Weg, angesichts einer dritten Welle, weiter zu öffnen, muss scheitern“, sagte Kretschmer. Jetzt müsse schnellstmöglich, in jedem Ort ein Testzentrum eingerichtet werden. Zudem warb Kretschmer für ein Grundverständnis in der Bevölkerung, sich regelmäßig testen zu lassen. „Dann können viele Dinge möglich werden – von der Schule über das Einkaufen bis zu Kultureinrichtungen.“

Testen sei jetzt die einzige Möglichkeit bei der Bekämpfung der Pandemie. Ob er bei der nächsten Bund-Länder-Schalte für einen harten Lockdown plädiere, wurde Kretschmer weiter gefragt. Dies bejahte er jedoch nicht. „Es kann zunächst mal keine weiteren Lockerungen geben. Das wäre unverantwortlich.“ Zudem mahnte Kretschmer, die „rote Linie“ – ein Inzidenzwert von 100 – nicht leichtfertig beiseite zu schieben und sie auf 200 und 300 zu erhöhen. Dies gelte auch für die Gebiete, Kreise und Kommunen in Sachsen, die derzeit über der 100-er Grenze lägen. Dort, wo es erforderlich sei, würden dort Kitas und Schulen wieder geschlossen. „Es wird in einigen Landkreisen leider ab Montag nicht weitergehen“, so Kretschmer. Die Entscheidung soll morgen dazu fallen. Dann müssten die Osterferien dazu genutzt werden, die Lage weiter zu analysieren. Doch nur durch den Ausbau von Testmöglichkeiten seien in den nächsten Monaten weitere Öffnungen möglich.

Kretschmer hält Osterurlaub für keine gute Idee

Anschließend warnte Kretschmer in einer einstündigen Frage-Antwort-Runde bei ZDF live davor, zu Ostern größere Reise-Tätigkeit innerhalb oder zwischen Bundesländern zuzulassen. Dies hatte beispielsweise der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) vorgeschlagen. „Auch wenn das bitter ist, aber ich glaube, dass das keine gute Idee ist“, sagte Kretschmer. Er habe selbst mit seiner Familie eigentlich in den Osterferien in den Alpen wandern wollen. „Ich möchte zu Vorsicht mahnen“, warnte Kretschmer vor größerer Reise-Tätigkeit. Vor etwa fünf Wochen hatte Kretschmer bereits mit seiner „Oster-Ansage“ für Aufsehen gesorgt. Damals hatte er Reisen zu Ostern bereits für ausgeschlossen erklärt.

"Künftig wieder mehr auf Wissenschaftler hören"

In einer Onlineveranstaltung zur psychischen Gesundheit in der Pandemie äußerte sich Kretschmer bereits am Dienstagabend ähnlich über die Lockerungen. Dort bezeichnete er den Schritt von vor zwei Wochen als Fehler. Zudem sei geboten, bei künftigen Entscheidungen wieder stärker auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu hören, weil politische Entscheidungen das Virus nicht beeindruckten. "Wir müssen möglichst schnell wieder auf einen wissenschaftlichen Weg kommen", erklärte Kretschmer. Es brauche zudem Formen der Sicherheit durch mehr Tests. Erst dann könne weiter geöffnet werden.

Auch in einem Tweet bekräftigt Kretschmer das am Mittwoch und schreibt: "Wir brauchen eine Rückkehr zu sehr stringenter Corona-Politik." Dies würden die aktuellen Entwicklungen von Inzidenzwerten und der Krankenhausauslastung zeigen.

Kretschmers Kritik am Lockerungskurs ist nicht neu. Bereits während der letzten Bund-Länder-Runde am 3. März zwischen Kanzleramt und den Ministerpräsidenten hatte Sachsen auf eine Protokollnotiz bestanden und sich von den Plänen distanziert. "Deutschland geht aus meiner Sicht zu schnell zu weit in der Öffnung", sagte Kretschmer damals.

Ähnliche Aussagen hat Kretschmer zuletzt regelmäßig auf Twitter wiederholt. Neu an der nun in der Online-Schalte getätigten Äußerung ist die Deutlichkeit beim Bekennen zur Wissenschaft als Schlüssel zur Bewältigung der Pandemie.

Corona-Krise müsse umfassend aufgearbeitet werden

Auf psychischer Ebene sehe Kretschmer das Problem, dass die Bevölkerung eine Ohnmacht empfinde, dass staatliche Maßnahmen stattfinden. Was ihn aber auch umtreibe sei, dass Deutschland nach dieser Krise immer noch so stark sein müsse, dass es im internationalen Wettbewerb mithalten kann.

"Nach der Krise müssen wir das Erlebte aufarbeiten", sagte Kretschmer. Die Corona-Krise sei auch für Politikerinnen und Politiker eine sehr herausfordernde Zeit. "Die Vorwürfe sind gigantisch, zum Teil drastisch in der Wortwahl", sagte der CDU-Politiker. Er sei froh, dass Entscheidungen im Team fallen und dass sich die Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen kann, sagte er zu seiner eigenen psychischen Belastung.

Auch eine Aufarbeitung dessen, warum Sachsen von der Pandemie besonders getroffen wurde, strebt er an. Ein externes Gremium soll ergründen, wieso es zu vergleichsweise hohen Inzidenzwerten kam und wie das Krisenmanagement gelaufen ist.

Linke und FPD kritisieren Kretschmer scharf

Während es bei den Koalitionspartnern Grüne und SPD auffällig ruhig blieb nach Kretschmers Äußerungen, kam von der Linkspartei scharfe Kritik. Die Landesregierung habe doch entschieden, die von der Bund-Länder-Konferenz vorgebenen Lockerungs-Beschlüsse umzusetzen. „Deshalb kann Kretschmer nicht so tun, als hätte er keine Chance gehabt, einen anderen Weg einzuschlagen“, kritisierte Fraktionschef Rico Gebhardt.

Kretschmers Kritik sei daher „nicht wirklich glaubwürdig“. Sie zeige nur, dass sich Kretschmer offenbar weder in der Runde der Regierungschefs noch am eigenen Kabinettstisch durchsetzen könne. „Wenn das so ist und er seine Haltung ernst nimmt, dann gibt es nur drei Möglichkeiten: Er muss entweder gehen, sein Kabinett entlassen oder endlich anfangen, eine nachvollziehbare, glaubwürdige Politik als Krisenmanager im Sinne eines nachhaltigen Gesundheitsschutzes für die Menschen in Sachsen zu machen“, sagte Gebhardt. Und setzte nach: „Wer ist eigentlich der Boss?“

Wer denn gerade in Sachsen das Sagen habe, fragte auch der FDP-Bundestagsabgeordnete Thorsten Herbst. Es sei „schon absurd“, dass sich ein sächsischer Ministerpräsident „hinter dem Bundeskanzleramt verstecken will“. „Wieder einmal sind andere schuld, tragen andere die Verantwortung für alles, was in Sachsen schiefläuft“, kritisierte Herbst. (mit dpa/epd)