Olympia-Tagebuch: Einmal Chinesisch süß-sauer, bitte
Die Peking-Spiele gehen zu Ende, es heißt Abschied nehmen. Mancher hat es damit ziemlich eilig. Und auch das Abschiedsessen ist... naja. Die Erlebnisse unseres Reporters in China.
Nicht nur allem Anfang wohnt ein Zauber inne. Auch so ein letzter Tag hat etwas Besonderes, etwas besonders Emotionales, wie ich feststelle. Es heißt Abschied nehmen, dabei hatte sich nach fast drei Wochen in Peking inzwischen fast so etwas wie Alltag eingestellt.
Ich habe gelesen, wenn man etwas 21 Tage in Folge tut, wird es Gewohnheit. Das werde ich nun nicht ganz schaffen, morgen früh ist erst Tag 20 für mich hier, der Ablauf aber schon eingeschliffen: aufstehen (viel zu früh), anziehen (bemüht entspannt), Körpertemperatur messen (konstant um 36 Grad) und in die Olympia-App (My2022) eintragen, frühstücken (Ei auf Pappteller), Corona-Test (immer negativ). Alles kein Problem, alles Routine und doch gut, dass es jetzt vorbei ist. Und offenbar können es auch die Chinesen an der einen oder anderen Stelle kaum erwarten.
Das Siegerpodest am Eiskanal ist abgebaut, kaum haben es Rekordmann Francesco Friedrich und die anderen Bobjungs verlassen. Ebenso im Presseraum: Neben mir werden schon die Plexiglasscheiben entfernt. Mit dem Kollegen vom ARD-Hörfunk bin ich schließlich der letzte Kunde – und versuche noch, eines der Maskottchen-Plakate an den Wänden mitzunehmen. Wenn schon kein Bing Dwen Dwen in Plüsch (restlos ausverkauft), dann eben so. Es gelingt mir nicht, auch an dieser Stelle haben die Gastgeber ganze Arbeit geleistet.
Härter, weil unerwartet trifft mich das Transportproblem. Nachdem nicht nur der Expresszug am letzten Wettkampftag unerklärlicherweise nicht mehr fährt, gibt es auch kaum noch Busverbindungen zurück in die Hauptstadt. Erst 22.30 Uhr ist die Nächste verfügbar – was kein Problem wäre, wenn der Presseraum in Yanqing nicht um 15.30 Uhr schließen würde.
In meiner Not fahre ich also mit dem Taxi ins Pressezentrum nach Peking – und beschließe, zum Abschied dort wenigstens einmal richtig Chinesisch zu essen. Und so endet Olympia für mich, wie es begonnen hat: Friedrich schauen (bei der Abschlussfeier im TV), Friedrich schreiben und dazu fried rice mit Curry Beef Potatoes (siehe Foto). Es ist allerdings ein Reinfall, rein kulinarisch – und insgesamt in meinem Olympia-Alltag hier einer der wenigen.
Peking war, bei allem Für und Wider, eine Reise wert. Doch jetzt freue ich mich, ehrlich gesagt, auf ein richtig schönes Stück Fleisch. Und Hackepeter zum Frühstück. Nicht nur deshalb: wird Zeit, wieder nach Hause zu kommen.
Freitag, 18. Februar: Ein Leben hinterm Zaun
Land und Leute kommen zu kurz in diesem Tagebuch, das ist zweifellos so. Ich kann lediglich beschreiben, was ich durch die Fensterscheibe des Shuttlebusses sehe. Hochgeschossige Wohnblocks, Kinder, die auf einem zugefrorenen Fluss spielen und viel Verkehr auf großen, mehrspurige Straßen. Großstadt eben. In Peking leben rund 21 Millionen Menschen, die Stadt ist damit eine der größten der Welt – und mittendrin Olympia, strikt abgeschirmt von Land und Leuten. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Anfangs hat mich das nicht gestört. Als ich 2016 bei den Sommerspielen in Rio war, lief ich über die Copacabana und dachte mir, den Kopf voll mit Wettkampfplänen und Text-Ideen: Ist auch nur Sand. Am letzten Tag war ich dann oben über der Stadt bei der Christusstatue – und denke noch heute gern daran zurück. Was wohl von Peking in Erinnerung bleibt?
Der Zoo ist gleich um die Ecke, und nachdem nun alle über das Maskottchen Bing Dwen Dwen reden, hätte ich tatsächlich Lust, echte Panda-Bären zu sehen. Stattdessen bleibt es bei der überlebensgroßen Attrappe, die heute Mittag als Attraktion für die Journalisten durchs Pressezentrum geführt wurde. Es bildete sich tatsächlich eine große Menschentraube, und auch ich habe – ausschließlich zu Dokumentationszwecken – ein Selfie gemacht.
Anders als bei der Zika-Mücke, vor der im Vorfeld der Rio-Spiele eindringlich gewarnt wurde und die es im brasilianischen Winter dann doch nicht gab, ist die Lage diesmal leider eine andere. Corona hat ganzjährig Saison, vor allem im Winter.Die gute Nachricht: die olympische Blase hält. IOC-Chef Thomas Bach bezeichnete Peking heute als den, aus pandemischer Sicht, sichersten Ort der Welt. Ich teile selten seine Meinung, in dem Punkt hat er uneingeschränkt recht. Was an den strengen Regeln nichts ändert. Der tägliche Corona-Test bleibt ebenso Pflicht wie die Maske.
Eine Chance, der olympischen Blase zu entkommen, hat es jetzt allerdings gegeben. Das Organisationskomitee bot tatsächlich einen Ausflug zur Chinesischen Mauer an – für 40 Personen. So schnell sich die Nachricht im Pressezentrum rumsprach, so schnell waren alle Plätze vergriffen. Nicht alle interessierten sich offenbar für die Panda-Attrappe.
Donnerstag, 17. Februar: Panda zum Mitnehmen gesucht
Mit der roten Laterne, das ist schon eine schräge Idee. Irgendwie niedlich sieht sie aber aus, diese Laterne namens Shuey Rhon Rhon und ein chinesisches Wahrzeichen ist sie auch. Ob um das putzige Maskottchen der Anfang März beginnenden Paralympics in Peking dann eine ähnliche Begeisterung entsteht wie sie Bing Dwen Dwen in diesen Tagen erlebt? Dass der Riesen-Panda zum Verkaufsschlager wird – darauf hätte man wetten können, das ist bei Maskottchen nicht selten. Das Nationaltier Chinas sind die Pandas schließlich auch.
Um Bing Dwen Dwen ist allerdings ein regelrechter Hype entstanden. Es gibt ihn natürlich in allen möglichen Variationen, als Pin, auf Karten und Tassen, die Plüsch-Version aber ist das mit Abstand beliebteste Souvenir. Und nachdem vergangene Woche bekannt wurde, der knuffige Panda sei ausverkauft, ist die Nachfrage noch mal gestiegen. Ich habe nun auch schon Anfragen von Zuhause erhalten („Der ist soooo süüüß“) – aber weder Lust noch Zeit, mich in die jeden Tag länger werdende Menschenschlange vor dem Beijing 2022 Official Store im Pressezentrum zu stellen.
Mehr als hundert Leute waren es heute Vormittag, ich habe nachgezählt. Es soll sogar Leute geben, die auf Klappstühlen vorm Eingang übernachten. Fakt ist: Anders als bei den Sportstätten, die oftmals überdimensioniert erscheinen, wurde hier definitiv viel zu klein geplant. Mehr als 20 Personen dürfen nicht gleichzeitig rein, so die Corona-Regel. Zudem ist das Angebot nicht gerade üppig, was wiederum kaum stört. Bing Dwen Dwen oder nix, das ist jetzt das Motto. Inzwischen werden sogar Bestellungen entgegengenommen – natürlich nur im Laden. Also doch anstellen? Es ist de facto die einzige Chance, in der olympischen Blase von Peking gibt es keine Alternative.
Ich habe einen anderen Plan. Vielleicht ergibt sich ja am Eiskanal von Yanqing eine unverhoffte Chance. Dort winkt Bing Dwen Dwen in Übergröße bei den Siegerehrungen. Und am Sonntag, nach dem letzten Rennen im Viererbob, wird das Kostüm vermutlich nicht mehr gebraucht. Aber ist das dann noch soooo süüüß?
Mein ganz persönliches Andenken habe ich ja schon: den vom deutschen Skeleton-Mechaniker mit Tape geklebten Schuh. Ich überlege, den Silbermedaillengewinner Axel Jungk aus Dresden noch darauf unterschreiben zu lassen. Und seit gestern bin ich unverhofft im Besitz eines Polo-Shirts mit Beijing 2022-Logo – ganz ohne Anstellen. Ein Kollege hatte einen Kollegen beauftragt, das Teil in der XXL mitzubringen. Die Größe stimmte auch, nur sind Größenordnungen in China offenbar andere. Jetzt gehört es mir, und ich trage für gewöhnlich Größe M – nach den Tagen hier mit Tendenz zur S. Aber das ist ein anderes Thema.
Mittwoch, 16. Februar: So geht sächsisch bei Olympia
Was mich mit dem nun dreimaligen Olympiasieger verbinde? Ja, auch ich bin schon mal Bob… mitgefahren. Eine tolle Erfahrung, Magendrehen inklusive. Francesco Friedrich hat damit keine Probleme, an den Lenkseilen fühlt er sich richtig wohl. Hochprofessionell ist der Pirnaer außerdem, sodass er nach einer sehr kurzen Nacht am Mittwochmorgen wieder in den Bob steigt. Vierertraining schwänzen – nicht mit ihm. Und nicht mit uns.
Zumindest beim Schlafen können wir locker mithalten, mehr als zwei, drei Stunden sind es diesmal nicht geworden, nur dass Friedrich beim Aufwachen eine Goldmedaille sieht und wir unseren Laptop, jeder selbstverständlich in seinem Einzelzimmer. Auch das ist eine der Corona-Auflagen dieser Spiele.
Wer außer mir zu diesem „wir“ gehört? Fotograf Robert Michael, Dresdner wie ich, inzwischen in Diensten der Deutschen Presse-Agentur und seit Jahren mit seiner Kamera ganz nah dran am sächsischen Sportgeschehen. Natürlich kennt er Friedrich – und Friedrich kennt ihn. Bei der Siegerehrung nach dem Zweiertriumph gibt es deshalb eine Jubelpose extra und am Tag danach dieses Foto unmittelbar vor dem Start mit dem Vierer.
Zuvor treffen wir Friedrichs Heimtrainer Gerd Leopold. Der Riesaer klärt die Hintergründe zu Friedrichs Bobwechsel auf. Der ist bekanntlich mit dem Schlitten von Kim Kalicki gefahren, vom Frauen-Bob zu reden aber vollkommener Quatsch. Das Reglement ist für alle gleich.
So viel Sachsen an einem Tag hatte ich hier noch nie. Dass Katharina Hennig aus Annaberg-Buchholz im Teamsprint sensationell Olympiasiegerin wird, erlebe ich dann im Pressezentrum in Peking – ein Gänsehaut-Moment. Der Reporter in der ARD-Übertragung, die ich im Livestream verfolge, schreit vor lauter Begeisterung, ihm sei die Pfanne heiß, bei mir ist’s die Fünf-Minuten-Terrine, und ich freue mich auch.
Warum ich nicht vor Ort in Zhangjiakou bin bei der sächsischen Athletin? Weil ich mich für Shorttrack mit der Dresdnerin Anna Seidel entschieden habe. Nach ihrer Verletzungsgeschichte wolle sie Olympia genießen, hat sie mir vorab erzählt. Und dass sie merkt, wie trotzdem ihre eigenen Erwartungen steigen. Ob das der Grund für ihr frühes Aus ist? Triumph und Tragik für die Sachsen liegen wie in der Vorwoche, als Biathletin Denise Herrmann Olympiasiegerin wurde und Rodlerin Julia Taubitz wenig später stürzte, erneut ganz eng beieinander. Auch das ist Olympia.
Dienstag, 15. Februar: Please do today’s daily test
Mit einer Mail fing die Aufregung an, die mich erfasste und immer größere Kreise in der Olympia-Blase zog. Dabei sind die Organisatoren selbst schuld. Sie haben schließlich sowohl Zeitplan als auch Corona-Regeln aufgestellt, was mich also bewog, besagte Mail zu schreiben.
Weil die Entscheidungen im Bob – aus sächsischer Sicht wegen der Bahn in Altenberg und vor allem durch Team Friedrich für unsere Zeitung von besonderem Interesse – zu grenzwertigen Tages- oder besser Nachtzeiten fallen, habe ich kurzzeitig das Hotel gewechselt. Bin von der Hauptstadt in die Berge gezogen nach Yanqing, Fahrzeit sparen. Ein guter Plan, auch wenn ich feststellen musste, dass zwischen Eiskanal von Yanqing und Hotel in Yanqing immer noch 45 Bus-Minuten liegen. Vor allem aber geriet mein Corona-Test-Ablauf vollkommen durcheinander.
Als ich 6.30 Uhr das Hotel in Peking verließ, war die Teststation vorm Eingang noch geschlossen. Mit Bus, Bahn und wieder Bus ging es direkt zum Eiskanal. Ich war pünktlich, sah mit dem Monobob die erste Entscheidung ohne deutsche Medaille, schrieb meinen Text – und im Laufe des Nachmittags jene Mail an die Rezeption des Hotels in Yanqing. Ich teilte mit, dass es spät werden würde, die ersten Läufe im Zweierbob waren erst für 20 und 21.40 Uhr angesetzt.
Ich könne kommen, wann ich will, so die Antwort, solle aber unbedingt vorher meinen täglichen Corona-Test absolviert haben. Der Test! Inzwischen war es 18.45 Uhr und an der Bahn gab es keine Test-Möglichkeit für Journalisten. Fast zeitgleich meldete sich der Corona-Beauftragte meines Hotels in Peking, erst mit zwei Anrufen (die ich vor lauter Aufregung nicht bemerkte), dann schrieb auch er eine Mail:
Dear Mr. Meyer, Greetings from Beijing. I am the epidemic prevention manager of your hotel. Please do today’s daily test. Thanks a lot. Keep in touch. Zhang Jing
Warum eigentlich Grüße aus Peking? Woher wusste Herr Jing, dass ich nicht in der Stadt bin? An der Rezeption hatte ich jedenfalls nicht Bescheid gegeben. Die entscheidende Frage war eine andere: Wo jetzt testen? Ich hatte wieder ein Problem. Und diesmal konnte mich auch der Skeleton-Techniker nicht retten. Der repariert Schuhe, ein Test-Kit hat er nicht im Rucksack.
In meiner Not wendete ich mich an den Help Desk im Pressezentrum, der ja nicht umsonst so heißt. Keine Chance, sagte mir die Volunteerin hinter der Plexiglasscheibe. Hier gebe es keine Test-Station. Sie empfahl mir aber, den Test im Hotel zu machen. Daraufhin erklärte ich ihr, dass dies heute nicht ginge, und fragte erneut, ob es nicht doch an der Bahn möglich ist. Sie antwortete, ich solle den Test wie immer im Hotel machen. Darauf sagte ich ihr... Wir drehten uns im Kreis, bis sie ein Einsehen hatte (oder, das vermute ich eher, ich meinen Tagesablauf verständlich genug erklärt hatte). Sie würde also mal ihre Chefin fragen, notierte sich sämtliche Daten meiner Akkreditierung und verschwand.
Die Zeit verging, die ersten Bobs fuhren. Und es kam, wie es kommen musste: Ausgerechnet als Friedrich am Startbalken stand, kehrte sie zurück – mit einem Lächeln im Gesicht und froher Kunde. Ich könne mitkommen, jetzt sofort, und den Test im Zielhaus machen. Dort würden eigentlich nur Bahnarbeiter täglich getestet, und für mich würden sie eine Ausnahme machen. Ich zeigte auf den Bildschirm in der Mixed-Zone: Important man! Please give me two minutes. Sie lächelte und sagte: no problem, you’re welcome.
Einen Bahnrekord später war die Sache geklärt, in der Bahn und auch bei mir. Was sonst passiert wäre? Ich weiß es nicht. Fakt ist: Der Aufwand scheint sich zu lohnen und die olympische Blase sicher zu sein. Am Sonntag gab es keinen einzigen positiven Fall unter den täglich rund 70.000 Tests. Gestern war es einer. Und zudem fast noch ein „missed test“...
Montag, 14. Februar: 300 Millionen Chinesen und ein Star
Aller guten Dinge sind drei. Das mag für chinesische Ansprüche zu wenig sein, für meinen Tagebuch-Eintrag trifft es zu. Zweimal hatte ich schließlich schon angesetzt. Doch erst kam mein Schuhproblem mit der abgelösten und vom deutschen Skeleton-Chefmechaniker getapten Sohle dazwischen und dann der Schnee. Beides ist immer noch da – aber nicht mehr der Rede wert. Ich komme klar bei diesen Winterspielen.
Und China? Organisatorisch top, so viel steht schon jetzt fest. Die deutschen Athleten, die jedenfalls, die eine Medaille gewonnen haben und dann bei den anschließenden etwas ausführlicheren Presserunden explizit danach gefragt werden, sind voll des Lobes. Manchmal habe ich den Eindruck, mancher Kollege würde lieber andere Antworten hören. Die Wettkämpfe seien bestens organisiert, die Sportstätten exzellent, heißt es immer wieder. Unterkunft, Essen, Wetter – auch auf Sportlerreisen wesentliche Faktoren – stimmen ebenfalls. Das hören die Gastgeber gern, und das sagen sie auch.
Ob China mit dem eigenen sportlichen Abschneiden zufrieden ist, lässt sich indes nur mutmaßen. Im Medaillenspiegel, vielleicht das prestigeträchtigste Zahlenwerk im Sport, ist man Siebenter – mit fünf Goldenen, dreimal Silber und zweimal Bronze. Einige Podestplätze werden sicher noch dazukommen, und chinesische Sternstunden gab es auch schon: die zwei Olympiasiege im Shorttrack zum Beispiel, in der Publikumsgunst hier die Nummer eins, zudem die erste Bronzemedaille im Eiskanal überhaupt für den Skeletoni Wengang Yan.
Nichts und niemand toppt jedoch sie: Eileen Gu. Die Ski-Freestylerin hat den spektakulären Big-Air-Wettbewerb von der Sprungschanze gewonnen und danach ein ganzes Land ausflippen lassen. Das Thema „Gold für Gu Ailing“, wie sie auf Chinesisch genannt wird, erreichte unglaubliche 1,86 Milliarden Klicks im Internet – und ließ die Server zusammenbrechen. Von wegen asiatischer Zurückhaltung. „Gu ist die neue Ikone Chinas“ schrieb die parteinahe Zeitung Global Times, was wiederum auch politisch motiviert gewesen sein dürfte. Denn die 18-Jährige, geboren in San Francisco, ist Tochter eines Amerikaners und einer in die USA eingewanderten Chinesin – und startet seit 2019 für China.
Doch Medaillen und selbst Gu sind nur das Beiwerk auf dem Weg zur Sportnation Nummer eins. Die einheimische Sportartikelmarke Anta ist drauf und dran den Weltkonzernen Adidas und Nike den Rang abzulaufen. Und Olympia soll nun Katalysator sein, nicht zuletzt um auch das Land fit zu machen. Aller guten Dinge sind in dem Fall: 300 Millionen. So viele Chinesen sollen sich jetzt für Wintersport begeistern.
Sonntag, 13. Februar: Schnee, ein Weltwunder
Am Sonntagmorgen zog ich die Vorhänge in meinem Hotelzimmer in Peking auf und staunte nicht schlecht. Es schneite, nicht viel, aber unaufhörlich. Endlich echte Winterspiele! Nachdem ich tags zuvor im rund 200 Kilometer entfernten Zhanjiakou (Expresszug!!!), wo die nordischen Ski-Wettbewerbe ausgetragen werden, knackige Kälte und eisigen Wind erlebte, nun also auch endlich Schnee. Damit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet.
Noch überraschter waren die Chinesen, was wiederum nicht überrascht. In der Hauptstadt sind weiße Flocken so etwas wie das achte Weltwunder, hier schneit es eigentlich nie. Und so hat das dann auch ausgesehen. Kinder tollten, Volonteers staunten und Helfer mühten sich, mit zusammengebundenen Sträucher-Besen, die Wege zu den Olympia-Stätten schneefrei zu bekommen. Herrliche Bilder! Auch mein Shuttle ins Pressezentrum brauchte länger, es störte mich nicht. Ich hatte Zeit eingeplant, und dank Wlan im Bus nutze ich die gut halbstündige Fahrt ohnehin gern, um Mails an die Kollegen zu Hause zu schreiben, Themen zu sichten oder die nächsten Tage zu planen.
Der Langlauf-Bundestrainer Peter Schlickenrieder hat die Sache auf den Punkt gebracht: "Die versuchen, den Schnee zu beseitigen, aber der liegt dann woanders in der Ecke. Das ist dann Sisyphusarbeit. Sie haben ja keine Schneeschaufeln, sondern so Besen. Das funktioniert nicht." Richtig sauer reagierten dagegen die Athleten, also einige, die mit den veränderten Bedingungen überhaupt nicht klarkamen.
Man könnte auch sagen: Auf alles waren sie in China vorbereitet, nur nicht auf Neuschnee.
Selbst in der Bergregion von Zhangjiakou, rund 900 Kilometer von der Wüste Gobi entfernt, fallen im Februar nur durchschnittlich sechs Millimeter Niederschlag. Hier herrscht stattdessen extrem kaltes, extrem trockenes Steppenklima. Was Wintersport unmöglich macht. Aber dafür gibt es ja Kunstschnee, der tonnenweise von riesigen Maschinen erzeugt worden ist. Über die Umweltbilanz dieser Spiele, die sich mit Nachhaltigkeit rühmen, müssen wir aber an anderer Stelle reden.
Beim Blick auf den Wetterbericht für morgen fällt mir mein Schuhproblem ein. Die abgelöste Sohle hatte der deutsche Skeleton-Chefmechaniker Wolfram Schweizer am Freitagabend ja mit einem Tapeverband erst einmal repariert. Nur was jetzt?
Zwar ist Sonnenschein angesagt – aber mit bis zu zehn Grad minus. Und in Yanqing, wo die Frauen im Monobob um Medaillen fahren und der Pirnaer Francesco Friedrich mit dem Zweier startet, soll es deutlich knackiger werden. Auch deshalb wäre mir Schnee viel lieber. Dann ist es oftmals ja nicht so kalt, und außerdem ist der Eiskanal komplett überdacht.
Samstag, 12. Februar: Mit 350 Sachen durchs Land
Wie wäre es anlässlich des Wochenendes mit einem kleinen Ausflug? Ich habe ja schließlich nicht nur dieses eine Paar Schuhe, das mir der deutsche Chefmechaniker Wolfram Schweizer am Vorabend kurz vor der Skeleton-Entscheidung noch einigermaßen reparieren konnte. Sonst hätte sich die Sohle wohl komplett abgelöst. Anziehen kann die Schuhe nun natürlich nicht mehr, wie das aussieht… Erst recht beim Wochenend-Ausflug.
Zhanjiakou ist mein Ziel, der dritte Olympia-Standort neben Peking (alle Hallenwettkämpfe) und Yanqing, wo direkt neben dem Eiskanal die alpinen Pisten angelegt sind. In Zhanjiakou wiederum werden die nordischen Wettbewerbe ausgetragen, also Langlauf, Biathlon und Skispringen. In genau der Reihenfolge fallen heute dort die Entscheidungen – eine einmalige Chance. Und ehrlich gesagt auch die einzige Möglichkeit, innerhalb der geschlossenen Olympia-Blase mal etwas anderes als Pressezentrum und Eiskanal zu sehen, nämlich mal Land und Leute – durch die Fensterscheibe. Der sogenannte Closed Loop, der geschlossene Kreis, trennt schließlich den olympischen Kosmos vom chinesischen Leben.
Zu sehen gibt es unterwegs nicht viel außer karge, graue Landschaften, ab und zu ein paar Häuser. Das Erlebnis ist der Zug: sehr pünktlich, sehr sauber und vor allem superschnell. Die knapp 200 Kilometer von Peking bis Zhanjiakou sind in 50 Minuten geschafft, mit einer Spitzengeschwindigkeit von 350 km/h. Dazu stabiles Wlan, was hier selbstverständlich sein mag, zu Hause in Deutschland aber noch immer als echte Rarität gepriesen werden muss.
Zhanjiakou wiederum ist selten in China, es ist das am Reißbrett entworfene nationale Wintersportzentrum mit neuer Infrastruktur, neuen Hotels und neuen Sportanlagen. Der Spitzensport soll hier ein Zuhause finden, vor allem aber der Tourismus. Bis zu 30.000 Menschen sollen nach Olympia an den Wochenenden mit dem Schnellzug kommen, ähnliches ist für das 80 Kilometer von der Hauptstadt entfernte Yanqing angedacht. Um es auf deutsche Verhältnisse runterzubrechen: Das ist so, wenn der Dresdner zum Wintersport nach Altenberg fährt, nur ist hier natürlich alles mindestens drei Nummern größer.
Beeindruckend ist dann auch das, was ich in Zhanjiakou sportlich erlebe: Silber für die deutschen Langläuferinnen in der Staffel, einen klasse Biathlon-Sprint der Männer und spannendes Skispringen – mit Bronze für Karl Geiger. Ein rundum gelungener Tag. Wenn nur nicht die kalten Füße wären. Ich denke darüber nach, das reparierte Modell doch wieder zu reaktivieren.
Freitag, 11. Februar: Wie mich der Chefmechaniker wieder flott machte
Dieser Freitag, und es ist nicht der 13., hatte schon verdächtig schlecht angefangen. Aufstehen, Anziehen, Frühstücken – alles normal wie immer. Etwas gehetzt, aber okay. Doch als beim Packen des Laptop-Rucksacks das Armband meiner Uhr gerissen ist, war ich schon mal bedient. Es ist schließlich eines dieser Modelle, die viel mehr können als nur die Zeit anzeigen. Andererseits, dachte ich mir dann, wozu brauche ich Aktivitätslevel, Pulsmessung und das Einstoppen von Zwischenzeiten, zum Laufen komme ich hier eh nicht mehr. Und die Schlafdatenmessung – sowieso überbewertet.
Also auf ins Pressezentrum. Ob der Shuttle-Bus pünktlich war, konnte ich nun natürlich nicht beurteilen, musste ich auch nicht. Er stand direkt vorm Hotel. Noch schnell den täglichen Corona-Test und ab. Spätestens als ich den Artikel über mein Treffen mit der Dresdner Shorttrackerin Anna Seidel vom Vortag schneller als erwartet aufgeschrieben hatte, war ich wieder bester Laune. Die Sache mit der Uhr… längst vergessen. Dem Glücklichen, heißt es schließlich, schlägt keine Stunde.
Was dann passierte, hätte mir allerdings fast die Schuhe ausgezogen. Und das ist jetzt weder Volksmund noch Phrase, das ist wirklich so gewesen. Mein Gang zum Bus fühlte sich schon irgendwie unrund an, und beim Blick nach unten bestätigte sich das. Die Sohle hatte sich vom Rest des rechten Schuhs gelöst, erst nur ein wenig seitlich und jetzt mit jedem Schritt mehr. Klassischer Fall von Altersschwäche – oder das Ergebnis chinesischer Pandemiebekämpfung, also diesem aggressiven Desinfektionsmitteleinsatz immer und überall?
Egal, ich musste mich entscheiden: Im Hotel andere Schuhe holen oder doch Gold für Deutschland in Yanqing? Sie ahnen die Antwort. Nur mein Sohlenproblem war damit nicht gelöst, im Gegenteil. Es wurde akut und auch mein Fuß spürbar kälter. Und, das ist kein Witz, auch links stellte ich erste Auflösungserscheinungen fest.
Was tun? In dieser Olympia-App mag ja außer meiner Körpertemperatur viel Nützliches festgehalten sein, Busfahrpläne, Wetteraussichten, die Öffnungszeiten des Souvenirshops zum Beispiel, in Notfällen wie meinem hilft die Technik aber nicht weiter. Zumindest das dichte Shuttle-System, frei herumlaufen soll hier ja niemand, machte sich jetzt bezahlt – und der gute Kontakt zu Heike Gruner, der Pressesprecherin des deutschen Bob- und Schlittenverbandes.
Sie kennt alle, vor allem kennt sie Wolfram Schweizer, Chefmechaniker der deutschen Skeletonis. Gerade noch hatte er die Schlitten der neuen Eiskanal-Helden flott gemacht, jetzt mich. Ein Blick, zwei, drei Handgriffe – fertig. Tape-Rollen hat der Mann immer dabei. Drei Minuten (!!!) vorm dritten Lauf des späteren Olympiasiegers Grotheer war das Problem gelöst.
Gestern hatte ich noch vom Souvenir geschrieben, das ich suche. Jetzt habe ich es gefunden.
Donnerstag, 10. Februar: Kommando Sprühflasche
Die Hälfte meiner Zeit hier in Peking ist rum, und wie ich das schreibe, bin ich selbst überrascht. Olympia hat doch gerade erst angefangen! Das Prozedere der Abreise wird indes schon generalstabsmäßig eingeleitet. Nicht von mir, ich find’s – gemessen an den Umständen und den Schreckensmeldungen im Vorfeld – ganz schön hier. Vorgestern lag allerdings ein Schreiben mit wichtigen Hinweise für den Corona-Test-Ablauf vorm Rückflug in meinem Zimmer. Vermutlich hat es der Zimmerservice hinterlassen, der hier jeden Tag saubere Arbeit leistet und wirklich alles tut, dass der Virus keine Chance hat.
Komme ich vom Frühstück zurück, klebt jedenfalls der Boden. Ich nehme an, es ist das Desinfektionsmittel, das überall versprüht wird. Tatsächlich, mit der Sprühflasche gegen die Pandemie, das ist hier an der Tagesordnung. Es gibt sie in allen Größen und offenbar auch in verschiedenen Farben, Neongrün, Weiß und auch Rosa. Vor allem aber gibt es kein Pardon, selbst beim Frühstück nicht.
Bevor die Kellnerin den Nachbartisch abräumt, wird so lange gesprüht, bis sämtliches Einweggeschirr, dass dann eh im Müll verschwindet, ordentlich desinfiziert ist. Schöne Wolke. Zum Glück konnte ich mich und meine Pappteller hinter den Glaswänden verstecken, die auf jedem Tisch stehen und die vier Essensplätze pandemisch-korrekt voneinander abgrenzen.
Die Chinesen desinfizieren wirklich alles, selbst vor dem Hoteleingang ist ein Mitarbeiter mit der Sprühflasche mehrmals täglich unterwegs. In der Hotellobby übernimmt diese Aufgabe jedoch ein Roboter, und zwar noch effektiver. Er kann gleichzeitig hinten wie vorne und rechts wie links.
Ich frage mich inzwischen, was ein passendes Mitbringsel dieser Spiele sein könnte. Das Maskottchen Bing Dwen Dwen auf jeden Fall, sofern der knuffige Panda nach Lieferengpässen im Souvenirgeschäft des Pressezentrums wieder verfügbar ist. Die bessere, weil typischere Erinnerung aber ist: eine Sprühflasche, ganz egal welche Farbe. Ich glaube, morgen früh werde ich dem Zimmerservice mal eine Nachricht hinterlassen.
Mittwoch, 9. Februar: Ein Blick auf meinen Pappteller
Gegessen wird, das gilt auch hier in Peking, was auf den Tisch kommt. Reis also, dazu etwas Hund und ein Stück Katze? Nein, nein, nein, Spaß natürlich. Es ist ganz anders und viel besser als erwartet, zumindest das Frühstück. Hier also nun der versprochene Tagebuch-Eintrag zum Essen.
Ich bin, was das betrifft, nicht so der experimentelle Typ, und warm soll morgens auch nur mein Kaffee sein und im Idealfall das Ei. Beides gibt’s beim Frühstücksbüffet im Hotel reichlich, Eier sogar wahlweise gekocht, gerührt und als Omelett. Darüber hinaus (und in der Reihenfolge hübsch drapiert): Salat, Gemüse, etwas Wurst und eine Sorte Schnittkäse; auf der anderen Seite Butter, Honig und (deutsche) Marmelade in Portionen abgepackt, Baguette, Toast und süße Teilchen. Wie gesagt, die warmen Angebote – Reis, Bauchspeck, gedünstetes Gemüse sowie eine undefinierbare Köstlichkeit – lasse ich rechts liegen.
Auch ohne biegt sich der Pappteller. Ich vermutete dahinter zunächst eine Corona-Maßnahme, zumal ich vor Betreten der Frühstückslobby immer Temperatur messen lassen muss und Einweg-Handschuhe erhalte. Kollegen erzählen indes, in anderen Hotels werde von "richtigen" Tellern gegessen. Maskenpflicht besteht dagegen immer und überall. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich das Ding auch in meinem Zimmer trage. Neulich ist’s mir erst beim Zähneputzen aufgefallen.
Zurück zu Tisch, dabei wird’s nach dem Frühstück eine zähe Angelegenheit, allein schon zeitlich bedingt. Bei der Arbeit vergesse ich tatsächlich manchmal alles um mich herum, vor allem eine Essenspause.
Allerdings ist das, was es geben könnte, auch zum Vergessen. In den kleinen Verkaufsständen an den Wettkampfstätten natürlich Reis und klassisches Fast-Food. Das Sandwich für umgerechnet 4,80 Euro, die "Western Meal Box" kostet 16,50 Euro, die vegetarische Variante die Hälfte. Ich habe verzichtet, was nicht am Preis lag. Bananen, Mandarinen, Kekse und 5-Minuten-Terrinen liegen zudem auf Tischen im Pressezentrum. Eine Kollegin sagt, nirgendwo ist die Verpflegung so schlecht wie bei Olympia. Sie hat recht.
Im Hotel habe ich zweimal – wie gesagt, kulinarisch keine Abenteuer – Spaghetti bestellt. Die Restaurants um die Ecke sehen dennoch einladend aus – beim Vorbeifahren mit dem Busshuttle. Was es dort, außerhalb der Corona-Blase im echten China wohl so Schönes und vielleicht auch Neues zu schmecken gibt? Statt Stäbchen packe ich weiter Plastebesteck aus. Wo shou goule... Ist chinesisch und heißt: Ich bin satt.
Dienstag, 8. Februar: Leben wie die Olympiasiegerin
Die Olympiasiegerin spricht mir aus dem Herzen. "Wir versuchen das natürlich schon so zu schieben, dass man fast bis mittags schläft und deshalb auch später ins Bett geht. Sonst wird der Tag hier sehr, sehr lang", sagt Denise Herrmann. Am Montag hat die Biathletin – so viel Lokalpatriotismus muss auch im 7.500 Kilometer entfernten Peking sein – die erste sächsische Goldmedaille dieser Winterspiele gewonnen. Und tags darauf erzählt sie nun aus ihrem olympischen Alltag, der auch meiner ist, also fast.
Sieben Stunden Zeitverschiebung sind schließlich so eine Sache, mit der man klarkommen muss. Und die deutschen Biathleten haben sich entschieden, das Thema einfach komplett zu ignorieren. Die Uhr mag sich in Sekundenschnelle umstellen lassen, das Handy macht es sogar automatisch, der Körper nicht. Schon gar nicht bei Topathleten, für die automatisierte Abläufe so wichtig sind wie für Reporter das Einhalten des Redaktionsschlusses.
Wenn die Biathlon-Rennen also 17 Uhr Ortszeit starten, ist es in Deutschland erst 10 Uhr. Beste, vor allem gewohnte Wettkampfzeit. Weil dazu vorab auch gut zwei Stunden Einstimmung und Erwärmung gehören, ist das mit dem Ignorieren tatsächlich eine gute Sache. Sonst würde man ja, wie Denise Herrmann erklärt, "im Mittagstief hängen, dass ja jeder kennt. Nach dem Mittagessen am liebsten erst mal schlafen". Sag ich doch, sie spricht mir aus dem Herzen – und an dieser Stelle ganz sicher nicht nur mir.
Die Biathleten profitieren von guten Erfahrungen der Winterspiele vor vier Jahren in Südkorea, bei mir hat es eher mit besagtem Redaktionsschluss zu tun. Der liegt fürs E-Paper bei 18.40 Uhr – deutscher Zeit natürlich. Und vom Eiskanal in Yanqing zurück nach Peking, das dauert auch etwas. Insofern, da hat Denise Herrmann vollkommen recht, ist es sinnvoll, am Morgen länger zu schlafen. Mit einem Unterschied: Während die Kantine im olympischen Dorf rund um die Uhr geöffnet hat, gibt’s bei mir im Hotel nur bis 10 Uhr Frühstück. Was tun? Das ist täglich aufs Neue meine Frage – mit klarer Antwort: Frühstücken. Das ist wirklich gut, also viel besser als erwartet. Und ja, versprochen, morgen gibt’s hier einen Blick auf meinen Pappteller.
Was fehlt, ist der Auslauf, also mir. Denise Herrmann hat das zwar am Tag ihres Triumphs auch festgestellt, nur bei ihr lag es an der Zeit, mir fehlt der Raum. Das Hotel ist umzäumt (Stichwort Corona-Blase), und der Parkplatz vorm Eingang eignet sich bestenfalls für kurze Sprints. "Ich habe mich gleich noch mal aufs Rad gesetzt, weil das Auslaufen zu kurz kam", sagt Denise Herrmann. Da sehe ich natürlich alt aus.
Dafür gibt es in meinem Hotel einen Pool – theoretisch. Denn als ich an der Rezeption nach der Öffnungszeit frage, blickt der Mitarbeiter erst irritiert, schüttelt dann mit dem Kopf, spricht chinesisch ins Handy und zeigt mir das Ergebnis auf dem Display: "No good." Schwimmen nicht gut?!? Stimmt, und das habe ich tags darauf dann auch eingesehen.
Im Pool ist kein Wasser. Begründung: Corona! Immerhin habe ich es schon mal aufs Laufband im Fitnessraum geschafft, besser als nichts. Und viel besser als der positiv getestete Eric Frenzel. Der muss jetzt in seinem Quarantäne-Quartier im Zimmer joggen.
Montag, 7. Februar: Auf Goldkurs in die Berge
Das habe ich nun davon. Wer sich bei der Quartiersuche so viel Zeit lässt, um nicht "zu viel" zu sagen, muss froh sein, am Ende überhaupt etwas zu bekommen. Da macht die Urlaubsreise keinen Unterschied zum Olympia-Trip. Ansonsten, das kurz eingeschoben, hat das eine mit dem anderen nichts zu tun.
Jedenfalls, stelle ich nach den ersten Wettkampftagen fest, wäre es besser gewesen, nicht in Peking, sondern gut 80 Kilometer weiter in Yanqing zu wohnen. Dort, wo der Eiskanal steht und wo es, die naheliegende Vermutung bewahrheitet sich jetzt, regelmäßig deutsche (Gold-)Medaillen gibt. Das war ehrlich gesagt auch der Plan – nur ich eben zu spät.
Selbst Zhangjiakou, der dritte Olympia-Standort noch mal 120 Kilometer weiter, hätte gepasst mit den Entscheidungen im Langlauf, der Kombination, Biathlon und Skispringen. Doch aus beiden für den Wintersport aus dem Boden gestampften Orten im Nirgendwo dieselbe Nachricht: ausgebucht.
Und natürlich gab es auch in Peking irgendwann nur noch Zimmer in Randbezirken. Damit erlebe ich nun in Gänze das für Olympia typische Olympia-Shuttlebus-System, das aber anders als sonst aufgrund der Corona-Blase für alle Teilnehmer die einzige Fortbewegungsmöglichkeit ist.
Um Johannes Ludwig auf Gold-Fahrt zu sehen, hieß das: Mit TG-B-26 vom Hotel ins Pressezentrum, dann mit TG-B-33 zum Bahnhof und mit dem Expresszug G8983 nach Yanqing, wo es mit TG-Y-16, TG-Y-18 sowie einem letzten Umstieg in TG-Y-03 bis direkt ins Ziel ging, also das des Eiskanals. Macht unterm Strich: knapp drei Stunden. Der Heimweg ist einfacher: Nach 23 Uhr, wenn die Entscheidungen gefallen und alle Interviews geführt sind, gibt es nur noch eine Möglichkeit, um zurück nach Peking zu kommen: TG-Cross. So heißt der Bus, der die drei Orte verbindet.
Die gute Nachricht: Es funktioniert! Alle Busse kommen, die meisten sehr pünktlich und zudem mit stabilem Wlan. Der Begriff "mobiles Arbeiten" bekommt so ganz neue Bedeutung. Laptop im Schoß und los.
Die Idee, nach der Nachtschicht vom Vortag im Hotelzimmer zu arbeiten, entpuppt sich indes als Reinfall. Weder läuft Denise Herrmann im chinesischen TV zu Gold, noch ist das Skisprung-Chaos zu sehen und auch nicht der Sturz von Rodlerin Julia Taubitz. Von 51 Sendern, die anliegen, sind zwar vier live bei Olympia dabei, nur zeigen die gefühlt immer Shorttrack.
Aber ich bin selbst schuld – und deshalb morgen wieder mobil, erst bis zum Pressezentrum und dann auf Goldkurs in die Berge.
Sonntag, 6. Februar: Und täglich grüßt Corona
Auch wenn es nervt, wir müssen noch mal über Corona reden. Die Pandemie ist und bleibt das große Thema hier in Peking. Wobei man klar sagen muss: Die Blase ist sicher, also der mit Zäunen von Rest-China abgeschirmte olympische Raum. Bei den 72.000 Corona-Tests, die am Samstag durchgeführt wurden, gab es gerade mal zehn positive Fälle. Nun sind speziell Sportjournalisten oftmals ganz schlechte Mathematiker, doch die Rechnung ist vergleichsweise simpel: 0,014 Prozent positive Fälle – und damit de facto nichts (selbst wenn Mathematiker und womöglich auch Virologen jetzt heftig protestieren).
Bange Momente gibt es dennoch. Wenn zum Beispiel der Bus, mit dem ich am Samstagnachmittag zu Claudia Pechsteins olympischen Rekordlauf gefahren bin, krachend voll ist. Genauso wie die Pressekonferenzen nach den Skisprung-Entscheidungen. Und natürlich interessiert es das Virus überhaupt nicht, ob es nun Top-Favoriten, Fernseh-Journalisten und einen der Tausenden Namenlosen trifft, die zum Olympia-Tross gehören. Den Unterschied macht jedoch das Danach: Nur Athleten wie Weltklasse-Kombinierer Eric Frenzel oder auch ARD-Mann Claus Lufen sorgen für Schlagzeilen, alle anderen sind mehr oder weniger nur eine Nummer im System.
Meine lautet: 1000998. So steht es auf meiner Akkreditierung, die in diesen Tagen von Peking wichtiger ist als der Pass. Denn die blaue Karte sichert sowohl den Eintritt in die Blase als nun auch das Bewegen darin, inklusive dem von mir an dieser Stelle mehrfach erwähnten täglichen Corona-Test. Dafür wird der Barcode auf der Karte gescannt und damit die Probe eindeutig zugeordnet.
Nach meiner anfänglichen Sorglosigkeit (vergangenen Donnerstag hätte ich den Test fast vergessen und erhielt zu fortgeschrittener Uhrzeit schon Anrufe), habe ich die Sache jetzt im Griff. Die Teststation direkt neben dem Hoteleingang ist nach dem Frühstück, was wieder ein ganz eigenes Thema ist (dazu später mal mehr), mein erster Anlaufpunkt des Tages. Und jedes Mal aufs Neue ein Erlebnis.
Corona-Tests sind ja inzwischen nichts Besonderes mehr, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Viel mehr Schutz geht nicht. Ansteckungsgefahr hier: gleich Null, mathematisch und virologisch. Nach der Schlafkabine im Pressezentrum und dem Hotel-Roboter, der das Essen aufs Zimmer bringt, mein nächstes Peking-Highlight. Bin gespannt, was noch alles kommt.
Freitag, 4. Februar: Robby bringt das Essen
Man macht Fehler, lernt daraus und weiß, was man auf gar keinen Fall mehr tun darf. Sagt Francesco Friedrich, Bobdominator aus Pirna und nun auch Fahnenträger des deutschen Olympia-Mannschaft - siehe dieses Porträt.
Recht hat er. Seinem Leitsatz folgend liegt seit Freitagfrüh ein Zettel auf meinem Hotel-Schreibtisch mit zwei entscheidenden Stichpunkten: Temperatur messen und Corona-Test. Beides hat hier in Peking allerhöchste Priorität. Und zumindest den Test hätte ich am Donnerstag ja fast vergessen. Welche Konsequenzen das außer dem Olympia-Ausschluss noch haben könnte, will ich mir gar nicht ausmalen.
Punkt 15 Uhr bin ich deshalb pflichtbewusst zum Test-Container direkt vorm Hotel gegangen. Kurzes Scannen des Strichcodes meiner Akkreditierung, dann das schon gewohnte Prozedere mit dem Wattestäbchen, fertig – die 30 Sekunden, und länger dauert es wirklich nicht, gehören jetzt zu meinem olympischen Tagesablauf. Und außerdem: Das bange Gefühl, wenn das Zimmertelefon klingelt. Wie ein paar Stunden später tatsächlich geschehen.
Fällt der Test positiv aus, ruft der Epidemic Manager des Hotels an. Doch es meldete sich eine Frauenstimme, die mir in bestem Englisch mitteilte, dass mein Essen fertig sei und in zwei Minuten vor der Tür stehen würde. So habe ich das zumindest verstanden.
Das nämlich ist ein weiterer Fehler am Vortag gewesen, aus dem ich lernen will: Packe dir den Tag nicht so voll, plane genügend Zeit für deine Texte ein. Bedeutete allerdings für mich: Eröffnungsfeier diesmal nicht im Stadion, sondern live im chinesischen Fernsehen. Also Friedrich sehen und gleichzeitig Friedrich schreiben. Und dazu: Abendessen aufs Zimmer.
Nur waren die zwei Minuten längst um, geklopft hatte an der Tür aber niemand. Ich schaute nach und musste lachen. Robby, so will ich die technische Hilfskraft mal nennen, stand mit der Bestellung da. Und auf Knopfdruck öffnete er sein Fenster: Essen entnehmen, auf beiliegender Rechnung unterschreiben, zurück ins Fach legen, Fenster zu.
Dann fuhr Robby still und leise wieder davon. Sachen gibt’s… Was es bei mir gab? Spaghetti mit Tomatensoße. Habe mich bewusst gegen Fleisch entschieden. Könnte, so hat man es den Athleten gesagt, kontaminiert sein. Und ein unnötiges Risiko will ich nicht eingehen. Würde Friedrich sicher auch nicht tun.
Erstmal ankommen. Die Flugzeit über Nacht war zwar günstig und mangels Auslastung genügend Platz in der Sitzreihe, mehr als zwei, drei Stunden schläft man dann ja aber doch nicht im Flieger, ich jedenfalls nicht. Das reichte allerdings für erste – trotz oder gerade wegen der sieben Stunden Zeitverschiebung, die zwischen Deutschland und China liegen. Statt kurz nach neun stand 16:10 auf der Uhr in Peking, und obwohl auf dem Flughafen alles gut organisiert ablief - hier ausführlich mein langer, schwerer Weg zu den Winterspielen -, war es am Ende weit nach Mitternacht, bis ich wieder schlafen konnte. Klarer Fall von Jetlag.
Was offenbar auch Olympia-Organisatoren wissen – obwohl ich am nächsten Tag herzlich gelacht habe, als ich im Hauptmedienzentrum diese vielen komisch-auffälligen großem Kästen mit der Glasfront vor dem Pressearbeitsraum sah. "Sleep rest cabin" steht neben der Tür geschrieben, Schlaf-Ruhe-Kabine wörtlich übersetzt. Darin befindet eine meterhohe Liege und auf dem kleinen Tisch daneben eine Sprühflasche mit Desinfektionsmittel.
Als wenn sich hier im hell beleuchteten Gang und für alle Kollegen gut einsehbar tatsächlich jemand hinlegen würde…Nach einer unverhofft turbulenten Reise zur imposanten Bobbahn in Yanqing, was weniger am Chinesen, eher an meiner wie so oft knapp kalkulierten Zeitplanung lag, wäre es heute fast soweit gewesen. Erst habe ich es gerade noch mit dem letzten Zug zurück nach Peking geschafft, dann mit dem letzten Bus zurück ins Medienzentrum und dann, es wurde inzwischen auch mit dem Artikelschreiben eng, mit dem wirklich allerletzten Bus zurück ins Hotel. Gedanklich sah ich mich schon den QR-Code an der Glastür scannen.
Wobei ich jetzt, wo ich diesen Text im Zimmer zu Ende schreibe, sogar bezweifle, dass die Schlafkabinen für Übernachtungen zweckentfremdet werden dürfen. Verstößt sicher gegen die Regeln, und da, dessen bin ich mir jetzt endgültig bewusst, versteht der Chinese keinen Spaß. Denn fast hätte ich bei alldem das Allerwichtigste vergessen: den täglichen Corona-Test!
Hi Tino, I am the epidemic prevention manager in your hotel, please do today’s daily test as soon as possible. Thanks a lot.
Diese Nachricht erreichte mich am späten Abend auf meinem Handy. Und in dem Moment wusste ich auch, wer hinter dem Anruf mit der chinesischen Nummer steckte, den ich teils gestresst, teils bewusst ignoriert hatte. Die Teststation im Pressezentrum aber hat bis 23 Uhr offen. Und gerade noch rechtzeitig hatte ich das Wattestäbchen im Rachen, gefühlt bis zum Anschlag – Strafe muss sein. Die gute Nachricht an aufregenden Tagen wie diesem: Adrenalin im Körper vertreibt die Müdigkeit, denn auch der Jetlag ist nicht mehr da.