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Rad-Aktivistin kandidiert für Dresdner Stadtrat: Wie radikal wird Ihre Verkehrspolitik, Frau Medger?

Als "Agathe Bauer" ist Ulrike Medger die lauteste Fahrrad-Aktivistin in Dresden. Jetzt will sie in den Stadtrat und Politik machen.

Von Dirk Hein
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Als "Agathe Bauer" ist Ulrike Medger streitbar in Netz aktiv. Jetzt will sie in die Politik.
Als "Agathe Bauer" ist Ulrike Medger streitbar in Netz aktiv. Jetzt will sie in die Politik. © Matthias Rietschel

Dresden. In den sozialen Medien spricht die Rad-Aktivistin "Agathe Bauer" von "Autopolizei" und "Autojustiz", prangert wie keine zweite in Dresden "motorisierte Gewalt" gegen Radfahrer im Straßenverkehr an, und wünscht sich im Endeffekt eine autofreie Chemnitzer Straße. Unter ihrem eigentlichen Namen Ulrike Medger will Dresdens lauteste Fahrrad-Aktivistin in den Stadtrat - um beispielsweise den 26er-Ring zur Rad-Route zu entwickeln. Doch wie tickt Dresdens Fahrrad-Vorkämpferin konkret?

"Mit dem Rad fahre ich stumpf regelkonform"

Auf dem Weg zum Interviewtermin sieht man Ulrike Medger schon von Weitem. Dicht eingepackt in eine hell reflektierende Radjacke wartet die 39-Jährige minutenlang an den insgesamt drei Ampeln, um vom Radweg der Marienbrücke kommend, auf Höhe der Ostra-Allee die Könneritzstraße überqueren zu können. "Mit dem Rad fahre ich stumpf regelkonform - und damit gehen die Probleme eigentlich schon los. Wenn ich schaue, wie lange ich an dieser Kreuzung gewartet habe! Wir müssen uns nicht wundern, wenn andere bei Rot loslaufen", sagt Ulrike Medger wenig später.

Die 39-Jährige arbeitet als Betriebsingenieurin in Rossendorf, baut dort im Auftrag des Freistaates die kerntechnische Anlage aus DDR-Zeiten zurück - und radelt jeden Arbeitstag von Plauen aus nach Rossendorf. Was sie dabei erlebt, reicht aus ihrer Sicht aus, um wütend zu werden.

"Ich habe die Schnauze voll. Es wird jedes Jahr schlimmer, es ist immer weniger Platz für den Radverkehr, die vorhandenen Radwege werden durch Nichtstun immer schlechter". Sie spricht von SUVs als rollende Schrankwand, von aggressiven Situationen, "von Angriffen auf einen selbst". Als im Winter ein Radweg auf ihrem Arbeitsweg unpassierbar war, wich sie auf die Straße aus. "Ich habe gehört, dass das Auto hinter mir weder lenkt noch bremst. Also bin ich von der Straße runter und in die Schneewehe gefahren. Sekunden später war das Auto dort, wo ich gefahren wäre."

Jede Radfahrt in Dresden wird gefilmt

Ihre Fahrten nimmt Ulrike Medger mit einer sogenannten Dashcam auf, stellt sie teilweise mit verpixelten Kennzeichen ins Netz. "Ich will anderen zeigen, worüber ich mich immer so aufrege. Teilweise hilft das Autofahrenden auch für einen Perspektivwechsel."

Zudem zeigt sie Autofahrer bei der Polizei an. "Eigentlich gibt es jeden Tag einen Fall. Doch wenn ich Anzeige erstatte, wird das einfach auf die Seite gelegt." Mittlerweile konzentriere sie sich auf die krassen Fälle. "Allein die sichtbare Kamera auf dem Helm schreckt ab."

Im Gespräch ist Dresden lauteste Radfahr-Aktivistin dennoch ruhig, besonnen, fast schüchtern. "Viele Jahre war der Twitter-Account mein Pöbel-Account. Ich muss übertreiben, um gehört zu werden. Aber ja, ich empfinde es als motorisierte Gewalt, was ich erlebe. Da sitzen Leute im Auto, sehen einem in die Augen und ziehen dennoch rum."

Für die Wahlplattform der "Dissident:innen Dresden" will sie jetzt in den Stadtrat, kandidiert in Plauen hinter dem Stadtrat-Urgestein Michael Schmelich auf Listenplatz 2. Die Initiative hat sich dem radikalen Klimaschutz verschrieben, Ulrike Medger einer radikalen Verkehrspolitik. "Die kann gar nicht radikal genug werden. Das Dresdner Radverkehrskonzept von 2017 soll Ende 2025 fertig sein. Wir sind momentan bei 21 Prozent Umsetzung, wir müssen langsam mal loslegen."

Abschaffen will sie "Bettelampeln" wie an der Könneritzstraße, wenn Radfahrer und Fußgänger also "Grün" per Tastendruck anfordern müssen. Ihr realistisches Ziel im Rat: "Ich will die laute Stimme für den Radverkehr werden. Es sind schon Radfahrende im Rat, aber die sind ein bisschen zu leise. Ihre Utopie: "Wir könnten doch den alten 26er-Ring zur Radvorrangroute machen. Die aktuelle Radvorrangroute Ost und die zukünftig geplanten Routen würden so im großen Ring verbunden."

Ein Lob für den Verkehrsbürgermeister

Notwendig seien jedoch viel kleine Schritte. Verkehrsbürgermeister Stephan Kühn (Grüne) "macht das schon ganz gut, er entscheidet ja nicht alleine. Jeder Radweg wird im Rat kaputt geredet." Radfahren solle für Menschen möglich werden, "die jetzt noch Angst haben, aufs Rad zu steigen. Das sind nicht wenige, die perspektivisch ihr Auto auch abschaffen würden."

Ihre Forderung, Autos von der Chemnitzer Straße zu verbannen, sei "drastisch formuliert. Bevor diese absolute Maßnahme kommt: Wir können Tempo 30 einsetzen und endlich mal durchsetzen." Grundsätzlich versucht sie sich auch in Autofahrer hineinzuversetzen. "Der Alltag stresst die Leute, die vergangenen Jahre waren für Familien belastend. Und ja, der Überholabstand hat sich verbessert. Aber ich möchte niemals mit einer Handbreit Abstand überholt werden. Wenn das am Ende jeder Tausende macht, ist das immer noch zu viel."

"Dissident:innen" als neue Heimat der Rad-Aktivistin

Durchsetzen will Ulrike Megder ihre Forderungen mit den "Dissident:innen Dresden". Die Wahlplattform ist eine Art Ausgründung der Dissidenten-Fraktion im Dresdner Stadtrat, die es dort seit Mai 2021 gibt. In der Fraktion versammelt haben sich zwei ehemalige Grüne sowie ein Stadtrat der Piraten und ein Spaß-Politiker der "Partei". Am Anfang belächelt, hat es die Fraktion geschafft, eine eigene Mischung aus flapsigen Eskapaden und seriöser linker Politik zu kreieren. OB Dirk Hilbert (FDP) sagte über die Fraktion: "Wer sehr um eine konstruktive Zusammenarbeit bemüht ist, sind die Dissidenten."

Jetzt haben die "Dissident:innen" ihre Kandidierenden für die Kommunalwahlen aufgestellt. Insgesamt 27 Bewerber stehen bereit, meist sowohl für den Stadtrat als auch für einen Platz im Stadtbezirksbeirat. Auf Listenplatz 1 treten die einstigen Politiker der Grünen und jetzigen Dissidenten-Vorkämpfer Johannes Lichdi (Neustadt) und Michael Schmelich (Plauen) an.

Auch Mission-Lifeline-Gründer Axel Steier tritt an

In Pieschen will Seenotretter und Mission-Lifeline-Gründer Axel Steier für die Wahlplattform in den Rat einziehen. Zudem tritt Markus Joos von der Bürgerinitiative Fernsehturm Dresden und Thomas Naumann, Fachplaner für Barrierefreies Bauen, für die Wahlplattform an. Spannend: Mit Stefan Zimmermann kandidiert der ranghohe Verwaltungsjurist eines sächsischen Ministeriums und Experte für Digitalstrategien für die "Dissident:innen".

"Ich bin begeistert, es ist uns gelungen alle Wahlkreise mit Personen zu besetzen, die eine Geschichte in der Stadt haben", sagt Johannes Lichdi. Für viele sei die Sorge vor einem Rechtsruck der "letzte Schubs gewesen, um sich nun endlich zu engagieren".

Bei Ulrike Medger ist es auch der Wunsch, Radfahren in Dresden sicherer zu machen - und sich für ihre Art zu leben einzusetzen, sagt sie. "Ich darf am Morgen auf dem Rad durch die Heide fahren. Das ist schön, das macht Spaß."