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Hier kommt Hilfe für Tinnitus-Geplagte

Sächsische.de stellt Erfindungen von hier vor, die unser Leben verbessern. Teil 9: In Harmony ist eine App, die lästige Pfeiftöne im Ohr mit Musik verschwinden lässt.

Von Jana Mundus
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Matthias Lippmann ( l.) und Martin Spindler helfen Tinnitus-Betroffenen mit Musik.
Matthias Lippmann ( l.) und Martin Spindler helfen Tinnitus-Betroffenen mit Musik. © Thomas Kretschel

Der Ton bleibt. Er ist immer zu hören, am Tag und auch in der Nacht. Ein Piepen, Brummen oder Summen. Solche Ohrgeräusche, auch Tinnitus genannt, kennen viele Menschen. Wie groß die Zahl der Betroffenen in Deutschland ist, dazu fehlen genaue Erhebungen. Einer Schätzung des Vereins Deutsche Tinnitus-Liga zufolge könnten es hierzulande circa drei Millionen sein. Bisher gibt es keine wirksame Therapie gegen den Tinnitus. Das Dresdner Start-up Tech & Life Solutions GmbH will derart Leidgeplagten nun mit einer Neuentwicklung helfen. Die ist musikalisch.

Die Beatles singen „Hey Jude“. Kopf und Fuß wippen im Takt, wenn Paul McCartney und seine Bandkollegen ihr minutenlanges „La-la-la“ anstimmen. Der Piepton im Ohr – er ist plötzlich weg. „Also richtig weg ist er natürlich leider nicht“, sagt Martin Spindler. Vielmehr ist er im Lied, in den Klängen der Band versteckt. Genau das ist die Idee, die hinter der App der Dresdner steckt. „In Harmony“, so ihr Name, macht den Tinnitus unhörbar, weil sie ihn mit gleichen Tönen im Musikstück überlagert. Für Betroffene eine Atempause, eine Ablenkung von ihrem Leiden.

Es begann vor einigen Jahren. Der Großenhainer HNO-Arzt Gerd Tymnik ist der Vater eines guten Freunds von Martin Spindler. Der Mediziner beschäftigt sich damals schon eine Weile mit der Frage, ob der Tinnitus durch Musik akustisch kompensiert werden kann. Auf die Idee brachte ihn der tschechische Komponist Bedřich Smetana. Dieser hatte seinen Tinnitus im Werk „Aus meinem Leben“ verarbeitet. Im Finale des Streichquartetts erklingt über mehrere Takte hinweg ein sehr hohes E. Zuhörer bekommen an dieser Stelle eine Ahnung davon, wie sich der Komponist gefühlt haben muss. „Gemeinsam mit Dr. Tymnik haben wir deshalb überlegt, wie sich so ein akustisches Kompensieren des Tons mit neuen Technologien umsetzen ließe.“

Die App macht die pfeifende Ohrgeräusche unhörbar.
Die App macht die pfeifende Ohrgeräusche unhörbar. © Thomas Kretschel

Aus der Idee wird erst einmal ein Forschungsprojekt. Informatiker Martin Spindler und sein heutiger Mitgründer, Elektrotechniker Matthias Lippmann, arbeiten in einer interdisziplinären Forschungsgruppe an der TU Dresden an einer Software zur Analyse und Therapie von Tinnitus. Am Ende entsteht der Prototyp eines Geräts, mit dem Nutzer zum einen ihren Tinnituston nachahmen können und das im zweiten Schritt exakt diesen Ton in Musikstücke einbindet. Eigentlich ein Erfolg. Doch der damalige Industriepartner entscheidet sich gegen eine weitere Entwicklung zum marktfähigen Produkt. „Das war für uns hart zu sehen“, sagt Lippmann. „Bei Anwendertests waren die Tinnitus-Patienten begeistert und fragten uns natürlich, wann und wo sie das Gerät kaufen können.“ Sie im Stich lassen? Das kam für die Dresdner nicht infrage.

Sie entscheiden, einfach ein eigenes Unternehmen zu gründen. Statt in einem separaten Gerät soll das Können ihrer Software in eine App für Smartphones oder Tablets einfließen. Im Jahr 2019 gründen sie ihre Firma. Ununterbrochen arbeiten sie seitdem an dem Algorithmus. „In Harmony“ heißt die Anwendung, die schon bald Tinnitus-Patienten helfen soll. „Im ersten Schritt müssen die Nutzer den Tinnitus-Ton anhand eines Referenztons in der App einstellen“, erklärt Spindler.

Für Betroffene sei das schon eine große Hilfe. Den Ton, den sonst keiner außer ihnen hören kann, endlich hörbar zu machen – eine Erleichterung für sie. Danach können sie die auf Handys oder Tablets gespeicherte Musik über die App abspielen. Die Software bettet die jeweilige Frequenz des Ohrgeräuschs harmonisch in die Musik ein. Vollkommen, ohne sie zu verzerren. „Es klingt also nicht irgendwann wie Mickey Mouse“, sagt Lippmann. Musikstücke könnten auf diesem Weg genauso genossen werden, wie jeder es gewohnt ist.

Den Algorithmus für die Tinnitus-App haben sie am Computer programmiert.
Den Algorithmus für die Tinnitus-App haben sie am Computer programmiert. © Thomas Kretschel

Tinnitus ist nicht gleich Tinnitus. Während manche einen gleichmäßigen Ton hören, wechselt die Höhe bei anderen, sind es zwei oder noch mehr Töne. Helfen kann „In Harmony“ im ersten Schritt erst einmal Menschen, die an einem chronischen tonalen Tinnitus leiden. Deren Ohrgeräusch sich also in seiner Höhe nicht verändert. „Für Varianten, in denen es im Ohr rauscht, funktioniert unsere momentane Methode noch nicht“, fügt Lippmann hinzu. Das soll sich in Zukunft aber ändern. Ziel der Gründer ist es, auch eine Lösung für andere Tinnitus-Varianten anzubieten.

Ihre Ideen gehen noch weiter. Mit Anbietern von Musik-Streaming-Plattformen sprechen sie derzeit über die Möglichkeit einer Anbindung der App an deren Dienste. Dann müssten Nutzer die Lieder nicht mehr zwangsläufig auf ihrem Gerät gespeichert haben, um sie angepasst an ihre Bedürfnisse abspielen zu können. „Das wäre natürlich wunderbar, wenn jeder jederzeit seine favorisierte Musik einsetzen kann, um seinen Tinnitus zeitweise zu vergessen“, sagt Spindler und ist gespannt, ob sich die Streaming-Dienstleister auf den Vorschlag einlassen.

Eines steht schon fest: Die App soll ein anerkanntes Medizinprodukt und eine zertifizierte, digitale Gesundheitsanwendung werden. Letzteres ist erst seit Kurzem möglich. Der Weg dorthin ist jedoch aufwendig. „Aber wir wollen zeigen, dass es uns nicht nur um Wellness geht, sondern dass unser Algorithmus wirklich positive Effekte auf die Anwender hat“, macht Lippmann deutlich. Ist das geschafft, könnten Ärzte „In Harmony“ auch auf Rezept verordnen. Teuer soll die Smartphone-App aber nicht werden. „Wir planen ein Abomodell mit Kosten von wenigen Euro pro Monat“, erläutert Spindler. Das ist notwendig, weil für die Qualität permanenter Support durch die Entwickler nötig ist.

In Zusammenarbeit mit dem Dresdner Universitätsklinikum läuft derzeit mit Probanden auch eine Studie über die App. Die ersten Zwischenergebnisse sind positiv. „Unsere Anwendung ist kein Wundermittel, das den Tinnitus wegzaubern kann“, sagt Spindler. Aber sie ermöglicht Betroffenen Entspannung. „Etwas, das manche gar nicht mehr kennen.“

Das Erfinder-Projekt „Genial Sächsisch“ findet gemeinsam mit den drei Gründerschmieden Dresden Exists, Saxeed (Chemnitz) und Smile (Leipzig) statt.

Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, hat die Serie von 2019 mit dem wichtigsten Preis für Technikjournalismus ausgezeichnet.

Hier noch einmal alle Erfindungen im Überblick:

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