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Kenia-Koalition in Sachsen - eine Halbzeit-Bilanz

Sachsens erstes Regierungsbündnis aus CDU, SPD und Grünen war nie eine "Liebesheirat". Kann Kretschmer seine Koalition halten? Eine Bilanz zur Halbzeit.

Von Annette Binninger & Thilo Alexe & Gunnar Saft & Andrea Schawe
 14 Min.
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Drei Punkte werden Ministerpräsident Michael Kretschmer immer wieder vorgeworfen: mangelnde Führung, fehlende interne Regierungs-Steuerung und schlechte Kommunikation.
Drei Punkte werden Ministerpräsident Michael Kretschmer immer wieder vorgeworfen: mangelnde Führung, fehlende interne Regierungs-Steuerung und schlechte Kommunikation. © dpa

Am Anfang von Schwarz-Grün-Rot in Sachsen steht am 20. Dezember 2019 der frisch unterschriebene Koalitionsvertrag und zu sehen gibt es euphorische Gesichter auf dem ersten Gruppenfoto. Pünktlich zur Halbzeit der Legislaturperiode harrt die Ministerriege von CDU, Grünen und SPD dann bei einem Vorort-Termin am Dienstag dieser Woche in der Sächsischen Schweiz allerdings gemeinsam im Regen aus. Dazwischen ist viel passiert und allen Beteiligten längst klar, Sachsens erstes Dreier-Regierungsbündnis ist bei Weitem keine Erfolgsgeschichte, im Gegenteil. Eine kritische Zwischenbilanz.

Die erste große Hürde: Corona und kein Ende

Das Gesicht der Corona-Krise ist in Sachsen nicht Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Während in anderen Bundesländern die Regierungschefs regelmäßig in Pressekonferenzen ihre Pandemie-Politik erklären, sitzt im Freistaat Woche für Woche Sozialministerin Petra Köpping vor den Kameras. Kretschmer überlässt der SPD-Kollegin nur zu gern die Bühne, denn zu gewinnen gibt es in der Pandemie nichts.

Keine drei Monate nach dem Start des "Kenia"-Bündnisses breitet sich das Virus im Freistaat aus. Was folgt, sind zwei Jahre Krisenmanagement. Einig über das "wie" sind sich die Koalitionäre dabei nur nach außen – um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierungsarbeit in einer solchen Ausnahmesituation nicht zu erschüttern. Kretschmer ist Mitglied des "Teams Vorsicht": Sicherheitshalber vieles schließen, um Kontakte und damit Infektionen und Todesfälle zu vermeiden. Die Grünen mahnen zur Verhältnismäßigkeit zwischen Schutz und Bürgerrechten. Als die Zahl der illegalen Corona-Proteste zunimmt, pochen sie darauf, dass die Regeln auch eingehalten werden.

Was fehlt: Führung. Erst spät richtet Sachsens Regierung einen Krisenstab ein. Sozial- und Innenministerium sollen sich die Verantwortung teilen, ausdrücklich auch auf Wunsch von Ex-Innenminister Roland Wöller (CDU). Der begreift aber schnell, dass Pandemiepolitik unpopulär ist, und zieht sich aus dem Gremium zurück. Ausgangssperren, Kontaktverbote, geschlossene Geschäfte, Kultur, Restaurants, Schulen: Köpping – deren Ressort eigentlich nur Gesundheitspolitik macht – muss 53 Corona-Verordnungen erklären, die meist unter enormem Zeitdruck und großem Aufwand entstanden sind.

Und sie muss sich dabei oft rechtfertigen für Maßnahmen, die von Kretschmer vorher in der Ministerpräsidentenkonferenz vereinbart wurden. "Ich habe das alles nicht allein beschlossen", betont sie immer wieder, die Verordnungen seien ein Ergebnis von Entscheidungen im Dresdner Kabinett. Doch an Unterstützung der Ministerkolleginnen und -kollegen mangelt es – so sehr, dass sich Köpping irgendwann intern weigert, allein auf dem Podium zu sitzen.

Irgendwann weigerte sich SPD-Sozialministerin Petra Köpping, nur noch allein auf den Corona-Pressekonferenzen zu sitzen.
Irgendwann weigerte sich SPD-Sozialministerin Petra Köpping, nur noch allein auf den Corona-Pressekonferenzen zu sitzen. © Matthias Rietschel/dpa

Michael Kretschmer sorgt unterdessen mit nicht abgestimmten Vorschlägen für Schlagzeilen und Frust bei Grünen und SPD. Häufig verkündet der Regierungschef Entscheidungen in der Corona-Politik, bevor sich die Koalition überhaupt getroffen hat. "Das hat uns überrascht" und "das haben wir aus der Presse erfahren" sind Sätze, welche die Spitzen der anderen Koalitionsfraktionen nicht nur einmal in die Mikrofone sagen. Zuweilen irritiert Kretschmer mit seinem Vorpreschen aber auch die eigenen Leute. Als er ganz Sachsen zum Hotspot erklären will, um 3G- und 2G-Regelungen sowie Maskenpflichten zu behalten, stellt sich sogar die CDU-Landtagsfraktion öffentlich gegen ihn. Ein Affront. Die Fraktion sei "keine amorphe Struktur", sondern "durchaus durch Meinungsvielfalt geprägt", mahnt Chef Christian Hartmann ungewöhnlich deutlich.

Der anhaltende Koalitions-Dissens zeigt sich bei Corona besonders in der Kommunikation. Während Köpping höchstens im Nebensatz anklingen lässt, dass sie sich dies und das "anders gewünscht" hätte, setzen die Grünen auf Konfrontation. Ihrer Fraktion ist es wichtig, eigene Ideen öffentlich zu machen, auch wenn sie diese nicht durchsetzen können: mehr Flexibilität für die Schulen statt Schließung, Notbetreuung auch für Alleinerziehende, keine Abschaffung der Testpflicht.

Am Ende dann der Vorwurf: alles gescheitert an den uneinsichtigen Koalitionspartnern. Das wiederum nervt nicht nur die CDU. Es widerspricht auch dem Politikstil, an den sich SPD und CDU bei ihrer früheren Zusammenarbeit gewöhnt hatten. Zu Zeiten von Schwarz-Rot in Sachsen gab es kaum öffentlichen Widerspruch, alles blieb bis zur Selbstverleugnung harmonisch. Das ist mit den Grünen nicht zu machen, erst recht nicht in der Krise. "Die Ausnahmesituation hat für mich gezeigt: Politik braucht mehr Selbstreflexion, viel Kraft zum Interessensausgleich und eine Sprache, die die Menschen mitnimmt", hält deren Fraktionschefin Franziska Schubert gegen.

Öffentlicher Wettlauf auch bei Erfolgen

Doch nicht nur bei Corona wird kräftig miteinander gehadert. Die Dreier-Koalition gerät wegen interner Auseinandersetzungen regelmäßig in die Schlagzeilen. Das lenkt die Öffentlichkeit oft genug davon ab, dass das Arbeitsbuch des Kenia-Bündnisses bis zur Halbzeit nicht völlig leer geblieben ist. Trotz aller Widrigkeiten werden etliche der im Koalitionsvertrag vereinbarten Projekte erfolgreich umgesetzt – auffällig ist aber jedes Mal, dass solche Erfolge selten durch die Koalition gemeinsam gefeiert werden, sondern meist von einem Regierungspartner in der Öffentlichkeit für sich reklamiert werden.

Tatsächlich ist es dann die SPD, die sich durch stetes Drängeln bei einem populären Thema durchsetzt: der Einführung des günstigen Bildungstickets für Schüler und Auszubildende im Personennahverkehr. Auch die erfolgreiche Arbeit "ihrer" Sozialministerin während der Pandemie-Jahre verbuchen die Sozialdemokraten gern vorrangig für sich.

Bei den Grünen sind die Erhöhung der Finanzmittel für den Naturschutz, die Einführung eines sächsischen Klimafonds sowie die Abschaffung des sogenannten "Baum-ab-Gesetzes", welches das Fällen von Bäumen seit 2011 erleichtert hatte, wichtige Erfolgskriterien. Während sich die CDU in der Rolle des soliden Kassenwarts sonnt, der Land und Leute vor neuen Schulden schützt. Oder es wird laut nach mehr Recht und Ordnung gerufen, hoffend, dass so etwas immer gut ankommt. Dazu setzt die CDU eine Landarztquote sowie die Medizinerausbildung auch in Chemnitz durch. Und immer bei ihr auf dem Zettel: zusätzliches Geld für Kommunen und Infrastruktur.

Der große Aufbruch: Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags 2019 setzen viele große Hoffnungen in die Kenia-Koalition.
Der große Aufbruch: Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags 2019 setzen viele große Hoffnungen in die Kenia-Koalition. © dpa

Beobachter, die darauf verzichten, einzelnen Koalitionspartnern bestimmte Projekten anzuheften, werden aber auch fündig. So erhöht Sachsen das Landesblindengeld. Für Auszubildende in Gesundheitsberufen wird der Weg zur Schulgeldfreiheit eingeschlagen. Dazu einigt sich die Koalition auf ein künftiges Transparenzgesetz, mit dem man den eigenen Bürgern – allerdings als eines der letzten Bundesländer – mehr Informationsrechte gegenüber Verwaltungen und Behörden einräumen will.

Grundsätzlich einig ist sich "Sachsen-Kenia" auch bei der – teuren – Förderung von Schulen, Kitas. Dazu gehört nicht nur allgemein mehr Geld, sondern gehören auch Hunderte zusätzliche Lehrerstellen.

Ähnliches passiert beim Dauerstreitthema Sicherheit, wo es eine Verständigung über 1.000 zusätzliche Stellen bei der Polizei gibt. An einem Strang zieht das politisch weit auseinanderliegende Trio zudem, als es einen sechs Milliarden Euro umfassenden Hilfsfonds für die Bekämpfung der Pandemie-Folgen auflegt. Der bringt wie erhofft Entlastung, sorgt nun aber für Ärger, weil die Koalitionäre darüber zerstritten sind, in welchem Zeitraum die aufgenommenen Schulden zurückgezahlt werden.

Und sogar das gibt es: Unter Federführung des von den Grünen verantworteten Justiz- und Gleichstellungsministeriums kommt es zu Projekten zugunsten eines stärkeren Schutzes vor häuslicher und sexualisierter Gewalt, für mehr Gleichberechtigung im Alltag sowie für wirksamere Inklusionsmaßnahmen. Für Sachsen lange Zeit keine Selbstverständlichkeit.

Auch digital gibt es Versuche nach vorn. Nach langem Ringen um die enorm hohen Kosten legen CDU, Grüne und SPD zusätzliche Investitionspakete über mehrere Hundert Millionen Euro zum überfälligen Ausbau des schnellen Internets auf den Tisch.

Oberster Koalitionschef besonders unter Druck

Zur Halbzeit gibt es dennoch einen großen Verlierer, und der heißt Michael Kretschmer. Ausgerechnet Sachsens Regierungschef ist dünnhäutig geworden, leicht reizbar. Bei einem Regionalforum reißt da schon einmal sein Geduldsfaden und er raunzt Teilnehmer an, sodass Zuhörer zusammenzucken. Nicht nur zwei Jahre Corona haben bei ihm Spuren hinterlassen. Auch zweieinhalb Jahre "Kenia-Koalition" tun ihm nicht gut – Kretschmer wird dort sichtbar für alle immer öfter zum Einzelkämpfer. Er stichelt und ätzt gegen die Grünen, gern öffentlich. Der Koalitionspartner soll das auch mitbekommen.

Vielleicht hofft Kretschmer ja, dass ihm das Punkte im eigenen Lager bringt. Dabei erodiert selbst dort der Respekt. Die Hemmschwelle für kleine Attacken und Sticheleien gegen den eigenen Ministerpräsidenten und CDU-Landeschef sinkt. Ausgerechnet, je näher die nächste wichtige Hürde rückt. Der Maßstab für Kretschmers aktuelles Standing in Land und Partei sind die Landrats- und Bürgermeister-Wahlen im Juni.

Lange hielt ihn der Ministerpräsident, im April dann wurde Innenminister Roland Wöller aus dem Amt entlassen.
Lange hielt ihn der Ministerpräsident, im April dann wurde Innenminister Roland Wöller aus dem Amt entlassen. © ronaldbonss.com

Die starre Wagenburg um ihn herum aus engsten Vertrauten – oft kritisiert sogar von den eigenen Partei-Freunden –, hält Kretschmer seit Jahren. Sie verteidigt ihn stoisch und schützt selbst immer seinen langjährigen Freund und CDU-Innenminister Roland Wöller. Dabei beklagen Grüne und Sozialdemokraten, und dort auch Regierungsmitglieder, oft genug dessen Versagen. So lange, bis Kretschmer nicht mehr halten kann, was ihm längst entglitten ist und immer mehr mit herunterreißt. Im April entlässt er Wöller und holt nun einen westdeutschen Spitzenbeamten mit wenig Kenntnissen über Land und Leute.

Aber Michael Kretschmer hört nicht. Auch nicht auf externe wohlmeinende Ratgeber, die bereitstehen, falls sie um Hilfe gebeten würden. Kretschmers Zögern hat Gründe. Mindestens drei schwerwiegende Kritikpunkte müsste er sich in dem Fall anhören: mangelnde Führung, fehlende interne Regierungs-Steuerung und schlechte Kommunikation. Als Ministerpräsident hüpft er stattdessen weiter von einem Fettnäpfchen ins nächste, verspricht viel, kann aber nicht alles halten. Mitarbeiter kämpfen dauerhaft damit, so manche großzügige Zusage des Regierungschefs wieder still "einzufangen".