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Kulturkopf zwischen Weggehen und Bleiben

Christian Thomas kam zum Studium nach Görlitz. Heute leitet er das Zentrum für Jugend und Soziokultur. Doch nicht mehr lange: Er plant gerade neu.

Von Ingo Kramer
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Christian Thomas (30) ist Geschäftsführer des Vereins Second Attempt, der in Görlitz das Zentrum für Jugend und Soziokultur im ehemaligen Werk I betreibt.
Christian Thomas (30) ist Geschäftsführer des Vereins Second Attempt, der in Görlitz das Zentrum für Jugend und Soziokultur im ehemaligen Werk I betreibt. © André Schulze

Ein Stück weit ist Christian Thomas am Ziel angekommen. „Schon als ich ab 2011 in Görlitz Kultur und Management studiert habe, war es mein Ziel, Geschäftsführer eines soziokulturellen Zentrums zu werden“, sagt der heute 30-Jährige. Diese Möglichkeit sah er damals in Görlitz nicht, schließlich gab es hier überhaupt kein solches Zentrum. Also wollte er nach den üblichen vier Semestern Präsenzstudium aus Görlitz weggehen. Das fünfte Semester war sein Auslandssemester in Prag, im sechsten wollte er ein Praktikum bei einem soziokulturellen Zentrum in Leipzig machen.

Zentrum dieses Jahr eröffnet

Doch dann kam alles anders. Christian Thomas blieb in Görlitz. Und seit diesem Jahr ist er nun Geschäftsführer des Vereins Second Attempt, der das im September eröffnete Zentrum für Jugend und Soziokultur im ehemaligen Werk I betreibt. Mit Praktikanten und Bundesfreiwilligendienstleistenden arbeiten hier mittlerweile 25 Menschen. Doch den Geschäftsführerposten will er im Sommer wieder abgeben, um den nächsten Schritt zu gehen. Aber dazu später mehr.

Sein Leben war früh geprägt durch den Drang, immer wieder etwas Neues zu tun – vor allem auf kulturellem Gebiet. Geboren im Sommer 1990 in Hoyerswerda, wuchs er die ersten fünf Jahre „in der Platte“ auf – und die nächsten 15 im nahen Schwarzkollm, wo seine Eltern ein Haus gekauft hatten. Schon zu Abiturzeiten engagierte er sich bei „Ey Freundchen“, der damaligen Jugendgruppe der Kulturfabrik (Kufa) Hoyerswerda, wo er bald in die Leitungsfunktion reinrutschte. „Wir haben Partys und Konzerte im Keller der Kulturfabrik organisiert und waren relativ unabhängig von der eigentlichen Kufa“, sagt er rückblickend.

Vorher nie richtig hier gewesen

Nach Abitur 2010 und Grundwehrdienst stand die Frage nach einem Studium. Auf Görlitz fiel die Wahl, weil hier der Bachelor „Kultur und Management“ angeboten wurde, von dem er nur Gutes gehört hatte. „Über die Stadt hingegen wusste ich nicht viel, ich war vorher nie richtig hier“, sagt er. Doch mit den Kufa-Erfahrungen und einer ausgeprägten Neugier ging alles ganz schnell. Schon bei seiner eigenen Erstsemester-Woche übernahm er die Dokumentation, kurz darauf organisierte er eine erste Party im First Club, trat in den studentischen KulTours-Verein ein, organisierte Poetry Slams und Lesungen, gründete im Studium einen Fachschaftsrat und übernahm dessen Leitung, wurde auch in den Fakultätsrat gewählt und stieg dann beim Zukunftsvisionen-Festival 2013 ein, wo er sich um die Finanzen kümmerte.

Das war ein bisschen der Schlüssel für alles Weitere, denn einerseits fand das Zukunftsvisionen-Festival 2013 in der einstigen Hefefabrik – der späteren Rabryka – an der Bautzener Straße statt, andererseits lief es erstmals in Trägerschaft des Vereins Second Attempt. Durch das Festival lernte Christian Thomas beides kennen. Und die Leute vom Second Attempt waren es auch, die ihm später ein Praktikum anboten. Unter der Bedingung, dass er das Campus Open Air übernehmen und inhaltlich neu gestalten kann, sagte er das Praktikum zu – und ging doch nicht nach Leipzig.

Sofort in den Vorstand gewählt

Schon damals, Ende 2013, wurde er Mitglied des Second Attempt-Vereins – und wirkte auch von Anfang an im Vorstand mit. Das Campus Open Air organisierte er drei Jahre lang federführend. Dafür brauchte er fürs Studium ein Jahr länger als geplant und schloss es erst im Sommer 2015 ab. In dieser Zeit nahm er in Görlitz einen deutlichen Aufbruch wahr – einerseits durch den damaligen OB Siegfried Deinege und dessen Begeisterung für jugendkulturelle Entwicklung, andererseits durch die Entwicklungen beim Second-Attempt-Verein, der in der Hefefabrik den Prototypen für das Zentrum für Jugend und Soziokultur schuf. Plötzlich saß er in Gesprächen mit der Stadtspitze mit am Tisch. Und als es beim Verein einen internen Zwist gab, wurde er Mitte 2015, kurz nach dem Studienabschluss, zum neuen Projektleiter.

Eigentlich wollte er da gerade wieder mal weg aus Görlitz, um einen Job zu finden. Er hatte schon eine Zusage in Dresden. Doch nun stand plötzlich die Frage: „Bleibe ich ohne Job-Perspektive hier, aber mit einem super Gelände und der Möglichkeit, mich maximal selbst zu verwirklichen? Oder gehe ich in ein etabliertes Projekt mit festem Gehalt in einer größeren Stadt?“ Er entschied sich erneut fürs Bleiben. Später schuf der Verein die ersten Teilzeitstellen. Christian Thomas bekam eine davon. Vereinschef wurde er Ende 2016. Stetig arbeitete er neben anderen Projekten an der Planung für das neue Zentrum im Werk I, das im September offiziell übergeben wurde.

Auch privat passiert viel

Und nun? Christian Thomas ist hin- und hergerissen. Einerseits fühlt er sich in Görlitz angekommen, auch privat. Er hat hier eine Freundin, will mit ihr und weiteren Freunden in ein Haus in der Innenstadt ziehen, wo er gerade eine Wohnung renoviert. Er spielt einmal pro Woche Squash, schreibt Texte, tritt bei Poetry Slams auf, spielt Improtheater. Langeweile hat er also nie. „Aber für mich haben sich voriges und dieses Jahr auch viele Dinge verändert, nicht nur zum Guten“, sagt er. Er habe gerade eher das Gefühl, dass trotz des Strukturwandels und der neuen großen Projekte vieles nicht so richtig in die Gänge kommt oder es nicht so vorangeht wie noch zu Deineges Zeit. Bei der Stadtverwaltung sieht er eine Überforderung, viele wichtige Leute dort sind weggegangen oder planen das demnächst. Stellenneubesetzungen fallen der Stadt sehr schwer. „Ich frage mich, wie es die Stadt schaffen will, die anstehenden Themen zu bewerkstelligen“, sagt er – und fürchtet einen Bruch. Hinzu kommt, dass er im ersten Lockdown im März bei sich selbst eine starke Erschöpfung gespürt hat.

Ab nächstem Herbst in Hildesheim

So reifte sein Entschluss, ebenfalls etwas zu verändern. Er will mehr in die Kulturarbeit und -vermittlung einsteigen, weniger Management, Lobby- und Netzwerkarbeit betreiben. Ab nächstem Herbst will er gern in Hildesheim Kulturvermittlung im Master studieren – im Präsenzstudium. „Ich werde für zwei bis zweieinhalb Jahre aus Görlitz weg sein und danach mit frischem, neuen Wissen zurückkehren“, sagt er. Auch seine Freundin bleibt hier. Er selbst wird während des Studiums vor allem in den Ferien in Görlitz sein.

Aber für ein Masterstudium sei jetzt, mit 30, ein guter Zeitpunkt. Ende August will er die Geschäftsführung beim Second Attempt abgeben. Ob temporär oder dauerhaft, ist noch nicht entschieden. Vereinsmitglied bleibt er. Auch aus anderen Aufgaben will er sich zurückziehen, etwa aus der Facharbeitsgruppe Soziokultur beim Kulturraum und aus dem Vorstand des Landesverbandes Soziokultur. Doch auch aus der Ferne will er beobachten, was in Görlitz passiert. „Ich habe mir das alles reiflich überlegt“, sagt Christian Thomas. Der temporäre Abschied von der Stadt, dem Verein, den Aktivitäten und Freunden falle ihm sehr schwer. Aber es müsse sein. Und auf die Rückkehr freut er sich schon jetzt.

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